Je genauer man hinsieht, desto weniger weiß man.“ Mit diesem Satz faßt in Joel Coens „Der unauffällige Mr. Crane“ (2001) ein eloquenter Anwalt die sogenannte Unschärferelation zusammen. Die von dem Physiker und Begründer der Quantenmechanik Werner Heisenberg (1901–1976) 1927 formulierte Theorie hat also auch schon andere Filmemacher inspiriert. In einem ihrer zahllosen Monologe nimmt in „Die Unschärferelation der Liebe“ von Lars Kraume eine Frau namens Greta (Caroline Peters) darauf Bezug.
Die Tragikomödie basiert auf dem Theaterstück „Heisenberg“ von Simon Stephens. Und natürlich soll das von dem deutschen Nobelpreisträger ergründete physikalische Phänomen auch eine Metapher sein für das, was sich zwischen Greta und Alexander (Burghart Klaußner) so allmählich entwickelt. Daß sich da etwas entwickelt, ist übrigens alles andere als wahrscheinlich. Alexander mag Tiere, Fleisch und Messer. Greta mag Monologe, die sie selber hält. Als es Alexander irgendwann zu bunt wird, fragt er die Quasselstrippe einfach: „Warum reden Sie mit mir?“ Die Antwort kommt prompt: „Keine Ahnung!“
Die Nervensäge redet ohne Punkt und Komma
Wie die beiden aneinandergeraten sind, erfüllt die Kriterien einer unerhörten Begebenheit: Der Endsechziger wurde an der Berliner Haltestelle Hallesches Tor von der zwanzig Jahre jüngeren Dame aus heiterem Himmel sexuell belästigt. So nennt man das wohl heute, wenn einem eine wildfremde Frau einen Kuß in den Nacken setzt, um den man nicht gebeten hat. Deswegen ist ja auch im neuen, hyperkorrekten „Arielle“-Film aus dem Hause Disney streng darauf geachtet worden, daß der Kuß zwischen Prinz und Meerjungfrau unbedingt einvernehmlich geschieht.
In „Die Unschärferelation der Liebe“ ist der ungebetene Kuß allerdings das kleinere Problem. Eine viel schlimmere Belästigung ist, daß Greta einfach nicht mehr aufhört, den gelernten Metzger zuzutexten. Die Frau redet ohne Punkt und Komma! Und auch nur ungefähr die Hälfte von dem, was sie von sich gibt, ist wahr. Sie sei unfähig, ihren nie versiegenden Redefluß zu kontrollieren, gibt die Nervensäge ungeniert zu. Sich zu genieren ist sowieso ihre Stärke nicht. Alexander dagegen überlegt sich seine Worte sehr genau, ist eher verschlossen und hat zunächst nur einen Wunsch: die aufdringliche Klette ganz schnell wieder loszuwerden. Aber der geht nicht in Erfüllung.
Wo könnte die Binsenweisheit „Gegensätze ziehen sich an“ schließlich besser exemplifiziert werden als auf der Kinoleinwand? Wenig später steht die nervtötende Zufallsbekanntschaft also bei Alexander in der Metzgerei. Und redet schon wieder. Von ihrem Mann, einem Amerikaner, der sie verlassen hat und in Amsterdam lebt. Von ihrem Sohn Markus, der vor ihr in die USA geflohen ist und den Kontakt zu Greta abgebrochen hat. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als ihn im fernen New Jersey aufzuspüren. Doch dazu fehlt ihr etwas ...
Daß dialoglastige Filme funktionieren können, wenn die Dialoge gut geschrieben und die Figuren, die sie aufsagen müssen, mit Charisma gesegnet sind, weiß jeder Woody-Allen-Fan. Auch in „Before Sunrise“ (1995) mit Ethan Hawke und Julie Delpy oder in „Lost in Translation“ (2003) mit Bill Murray und Scarlett Johannson kam das Rezept erfolgreich zur Anwendung. Beide Filme verstanden es jedoch viel besser als „Die Unschärferelation der Liebe“, die schillernde Metropole, in der ein Mann und eine Frau sich näherkommen, Wien in „Before Sunrise“, Tokio in „Lost in Translation“, auf virtuose Weise zur dritten Hauptfigur zu machen. Berlin und New Jersey bleiben unter Lars Kraumes Regie dagegen eher spröde Kulisse. Wird ein Theaterstück so unspektakulär verfilmt, ist es für die große Leinwand einfach eine Nummer zu klein.
Kinostart ist am 29. Juni 2023