© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/23 / 30. Juni 2023

Dorn im Auge
Christian Dorn

Herr Kalauer ist sich ziemlich sicher. Ob der Landkreis Sonnenberg ein Freibad hat, wisse er trotz der akuten Hitze nicht, aber eines sei seit dem Wahlsonntag klar: Die von der thüringischen CDU können nicht mal einen Köpper. Erfreulich, ja geradezu erheiternd ist auch, daß der Scholzomat funktioniert, hatte dieser doch die AfD als „Schlechte-Laune-Partei“ etikettiert. Das Ergebnis bei der „antinationalen“ Front der „antidemokratischen“ Blockparteien demonstriert, daß dort die „schlechte Laune“ seit dem vergangenen Sonntagabend nicht nur ansteckend, sondern augenscheinlich alternativlos ist.

„Als ich die ahistorische Darstellung ‘kontrafaktisch’ nenne, erhebt sich ein Raunen durch den Saal.

Nach dem 17. Juni ist Nachhilfeunterricht angesagt. Im Ratssaal der Stadt Halberstadt, dessen Prüfstatik das Büro meines Vaters gemacht hatte und den ich an diesem Abend erstmals betrete, hält der Historiker Stefan Wolle („Die heile Welt der Diktatur“) einen ebenso unterhaltsamen wie lehrreichen Vortrag, der – wie ich später feststelle – fast dieselbe Chronologie und Schwerpunktsetzung aufweist wie die Thema-Seite der jüngsten JF-Ausgabe zu diesem Datum. „Alles Zufall“, wie im Song von André Herzberg? Mein Puls jedenfalls steigt, als danach Schüler des Gymnasiums Martineum – der einstigen EOS „Bertolt Brecht“, an der ich 1989 mein Abitur machte – ihre Ergebnisse zum 17. Juni 1953 vortragen. Die am Eingang ausliegende Schulbroschüre unter der Ägide des an diesem Abend zugleich moderierenden Geschichtslehrers Olaf Beder läßt mich den Kopf schütteln. Schließlich habe ich das Mikro: Unter dem Kapitel 4 „Einschätzung“ – „Geringschätzung“ wäre treffender – behaupten die Schüler allen Ernstes, der Protest habe sich „weniger gegen die Staatsform gerichtet“, vielmehr hätten die „Streikenden die propagierten Ziele der sozialistischen Führung“ mitgetragen. Auch könnten die Schüler „die gewalttätigen Ausschreitungen beider Seiten aus heutiger Zeit nicht gutheißen“. Zugleich seien sie während ihrer Recherchen oft auf die „Fehlvorstellung“ gestoßen, „daß durch das Eingreifen der sowjetischen Besatzer eine mögliche Wiedervereinigung verhindert wurde“. Als ich diese ahistorische Darstellung „kontrafaktisch“ nenne, erhebt sich ein Raunen durch den Saal – eine Diskussion darüber entsteht nicht. Der Geschichtslehrer verteidigt derweil die Sichtweise seiner Schüler. Immerhin dreht sich DDR-Forscher Stefan Wolle zu mir, um diese ungeheuerlichen Passagen mit eigenen Augen zu sehen. Der nachfolgende halbseitige Volksstimme-Bericht über die Veranstaltung verschweigt dieses Moment des Abends. Eigentlich folgerichtig, so mein Gedanke, daß der 17. Juni kein gesetzlicher Feiertag mehr ist.


Tage später betrete ich erstmals die einstige Klaussynagoge. Der Schriftsteller György Dalos referiert differenziert und zurückhaltend über die angeblich antisemitischen Umtriebe im Ungarn Orbáns. Tatsächlich ist es aber Halberstadt, wo auf ausgestorbener Straße zwei Polizeitautos die Veranstaltung sichern – ganz anders als in Budapest, wo eines der lebendigsten jüdischen Viertel und eine der größten Synagogen Europas zu finden sind.