© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/23 / 30. Juni 2023

Das heiße Vokabular der Plastikwörter entsorgen
Geschichtchen statt Geschichte
(ob)

Großbegriffe oder genauer „Kollektivsingulare“ (Reinhart Koselleck) wie Geist, Geschichte, Wahrheit, Freiheit, Gemeinschaft, Nation, Leben stehen heute in den „Geisteswissenschaften“ unter Ideologie-, mindestens aber unter Vereinfachungsverdacht. Völlig zu Recht, wie die Philosophin Petra Gehring (TU Darmstadt) meint. Denn sie wirkten in ihrer Anwendung überfrachtet, lüden sich normativ auf und werden mit tödlicher Sicherheit durch Trivialisierung unterspült. Aus der Theoriebildung versuche man solche zeitgebundenen „Plastikwörter“ seit langem zu verbannen. Muß man sie deshalb auch aus dem Wortschatz tilgen? Den Zusammenhang von „Geschichte“ auflösen  und stattdessen nur noch „Geschichtchen“  erzählen? Oder statt vom Geist einer Epoche zurückhaltend kritisch nur von Tendenz, Dynamik oder Feldern sprechen? Gehring neigt dazu, diese Fragen bejahend zu beantworten und anachronistisch gewordene Großvokabeln als „epochale Irrtümer“ zurückzulassen. Aber leider sei es damit nicht getan, denn anstelle von „Geist“ oder „Leben“ treten heute etwa „Kreativität, Innovation, Wert“ und viele andere Großnarrative. Wer denen gegenüber sein kritisches Auge verschließe, falle auf die ihnen immanente nächste Weltanschauung einer „simplen Fortschrittserzählung“ herein. Für eine Rehabilitierung des „Geistes“ in den Geisteswissenschaften wolle sie deswegen zwar nicht plädieren, aber das vormals „heiße Vokabular“, das heute verfemt ist, eigne sich noch als Kontrastmittel, um Plausibilität und Reichweite aktueller Begriffsangebote zu prüfen (Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1/2023). 


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