© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/23 / 30. Juni 2023

Japans Zeitregime im Wandel der Zeiten
Tyrannei der Pünktlichkeit?
(dg)

Von der christlichen Zeitrechnung erfuhren Japaner erstmals im 16. Jahrhundert, als Missionare ihnen eine mechanische Uhr als Gastgeschenk überreichten. Eingeführt wurde die fremde Zeitrechnung jedoch erst 1873, zu Beginn der Industrialisierung des ostasiatischen Inselreiches, dessen Agrargesellschaft sich bis dahin an der Ereigniszeit vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang, von Ernte zu Ernte orientierte und darum keine mechanischen Uhren benötigte. Heute wird die Uhrenindustrie weltweit von japanischen Firmen wie Seiko beherrscht, die Chronometer für Wissenschaft, Militär und Sport herstellen. Der emeritierte Soziolinguist und Japanologe Florian Coulmas (Uni Duisburg-Essen) sieht in dieser Technologieführerschaft die kompensatorische Überanpassung einer „verspäteten Nation“ an das neue kapitalistische Zeitregime. Darum sei Tokio gegenwärtig die „schnellebigste Stadt der Welt“ und die Pünktlichkeit der öffentlichen Verkehrsmittel Japans mache alle anderen Industrieländer neidisch – insbesondere Deutschland, wo es in fernen Tagen auch einmal hieß, „pünktlich wie die Eisenbahn“. Der Preis, den die Japaner dafür zahlen, sich ihren Lebenstakt von der „Tyrannei des Augenblicks“ diktieren zu lassen, sei allerdings kaum bekannt. Ihn zu ermitteln, ist für Coulmas Aufgabe des neuen Wissenschaftszweiges der Ethno-Chronologie, die den Umgang der Menschen mit der Zeit in verschiedenen Epochen, Gesellschaften und Kulturen erforsche. Wer die Antwort auf die Frage wisse, wieviel Zeit Menschen am Arbeitsplatz, am Eßtisch, im Bett oder im Gespräch verbringen, erfahre Wesentliches über Mentalität und Wertpräferenzen einer Gesellschaft (Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 6/2023).    


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