© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/23 / 30. Juni 2023

„Wir wollen einen Bund europäischer Nationen“
Außenpolitik: Die Bundesparteikommission der AfD fordert in ihrem Leitantrag zur Europawahl eine geordnete Auflösung der EU
Dirk Meyer

Die Bundesprogrammkommission der AfD hat ein brisantes Manifest zur Europawahl 2024 erarbeitet. Darin heißt es in der Präambel: „Unsere Geduld mit der EU ist erschöpft. Wir streben daher die geordnete Auflösung der EU an und wollen statt ihrer eine neue europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft gründen, einen Bund europäischer Nationen.“ Aber was wären die Konsequenzen? Und wäre eine Transformation in neuen Strukturen überhaupt möglich? Eine Auflösung ist im EU-Vertrag (EUV) nicht vorgesehen, wohl aber der Austritt eines Mitgliedstaates (Artikel 50 EUV). Großbritannien hat diesen am 31. Januar 2020 als erstes EU-Land vollzogen.

In einem ersten Schritt müßten alle EU-Staaten ihren Austritt beschließen und ein Auflösungsabkommen mit Pflichten und Rechten in qualifizierter Mehrheit aushandeln. Es geht dabei um die EU-Schulden, die Abwicklung der EZB inklusive der Target-Salden im Eurosystem und die Entlassung von 32.000 EU-Beschäftigten. Aufgelöst wären auch Parlament, EU-Rat, Ministerrat, Kommission, der Europäische Gerichtshof (EuGH), die EZB und der Europäische Rechnungshof.

Damit wären automatisch auch der Euro und der EU-Binnenmarkt (freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital, Arbeitnehmer) mit einheitlichen Zöllen gegenüber Drittstaaten und die Freizügigkeit im Personenverkehr zunächst passé. EU-Verordnungen und Richtlinien haben aber etwa zwei Drittel aller nationalen Gesetze vorbestimmt, die zunächst fortbestehen. Ein gravierendes Problem stellt die Abwicklung der Währungsunion dar. Sofort müßten alle Länder entweder nationale Währungen wiedereinführen oder neue und homogenere Währungsgemeinschaften bilden. Doch zu welchen Umstellungskursen? Welche Währung gilt für Altverträge, speziell für Verträge mit Auslandsbezug – eine üppige Verdienstquelle für Juristen.

Probleme für die Exportnation und den Euro-Gläubiger Deutschland

Bei abwertenden Neuwährungen käme es im vorhinein zu einem massiven Zustrom von Euro in ein „starkes“ Deutschland, den auch Kapitalverkehrskontrollen nur teilweise verhindern könnten – abgesehen von einem Hochschnellen der deutschen, im Zweifel wertlosen Target-Forderungen durch auswärtige Fluchtgelder und dem Verkauf von mediterranen Staatsanleihen von Ausländern über die Bundesbank. Die deutschen Target-Forderungen in Höhe von 1.082 Milliarden Euro entsprechen etwa zwei Drittel des gesamten deutschen Netto-Auslandsvermögens. Bankenzusammenbrüche aufgrund der Umstellung und ein Zusammenbruch der Finanzmärkte wären nicht unwahrscheinlich.

In einem zweiten Schritt wäre der „Bund europäischer Nationen“ (BeN) in einem völkerrechtlichen Vertrag zwischen interessierten europäischen Staaten auszuhandeln. Neben der „Neuen Deutschen Mark“ (NDM), für strukturgleiche Länder alternativ eine Gemeinschaftswährung, wird ein neu konzipierter BeN-Binnenmarkt mit einer Zollunion und einer gemeinsamen Handelspolitik vorgeschlagen. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied, der den gemeinsamen Markt entscheidend schwächen wird: Es soll nicht das Ursprungsland-, sondern das Ziellandprinzip gelten. Gemäß dem Souveränitätsvorbehalt kann ein Mitgliedstaat (Zielland) hier über die einzuhaltenden Qualitäts-, Sicherheits- und Gesundheitsstandards der Importe entsprechend den inländischen Vorgaben selbst bestimmen. Die Vergangenheit hat jedoch gezeigt, daß einzelne Staaten dies als Möglichkeit für nicht-tarifäre Handelshemmnisse genutzt haben, beispielsweise für ausländische Pkw-Importe.

Unsinnige Standards können nicht nur zum Schutz heimischer Produzenten vorgeschrieben werden. Die notwendigen Anpassungen und Zulassungen würden auch an sich günstige Importgüter zu Lasten der inländischen Konsumenten verteuern. Demgegenüber wurde das Ursprungslandprinzip, nach dem jedes nach inländischen Standards produzierte Gut in jeden EU-Staat exportiert werden darf, durch das Cassis-de-Dijon-Urteil des EuGH (1979) hoch gefeiert. Nach Klage von Rewe durfte der französische Likör nach Deutschland eingeführt werden, auch wenn dieser nicht der deutschen Branntweinverordnung entsprach. Als Exportnation dürfte Deutschland von diesem Grundsatzurteil erheblich profitiert haben.

Welche ökonomischen Kosten ein Austritt aus der EU hat, zeigt der Brexit. In einer Studie des Londoner Centre for European Reform schrumpfte die Wirtschaft Großbritanniens infolge des EU-Austritts doppelt so stark wie erwartet, nämlich um 5,5 Prozent jährlich. Aktuell hat das Münchner Ifo-Institut die ökonomischen Folgen einer Rückabwicklung verschiedener EU-Integrationsschritte berechnet. Wenngleich die Ergebnisse gewisse Unsicherheiten beinhalten, resultieren die mit Abstand größten Einkommensverluste für Deutschland aus einer Abkehr vom EU-Binnenmarkt (3,5 Prozent), gefolgt vom Ende der Personenfreizügigkeit im Schengenraum (1,0 Prozent) und der Auflösung der Währungsunion (0,7 Prozent) – in der Summe ein BIP-Verlust von 5,2 Prozent pro Jahr entsprechend über 200 Milliarden Euro.

Nicht ganz widerspruchsfrei sind auch die AfD-Vorschläge zu einer freien Marktwirtschaft im BeN. So wird ein einheitlicher CO2-Preis als Steuerungsinstrument abgelehnt, aber die Förderung von „Hochtechnologie gefordert“. Hier wird also auf den planenden Staat gesetzt. Kritisch an dem Papier sind vor allem zwei Punkte: Es reicht nicht, interessante Vorschläge zu unterbreiten, deren Umsetzung im halluzinatorischen Nebel verbleiben – gerade an der Transformation in ein neues System könnten gute Ideen scheitern. Zudem erscheint die Bewertung der Rettungsschirme, der EZB-Anleihekäufe und der EU-Schulden mit „vertragswidrig“ als unangemessen, insbesondere wenn höchstrichterliche Urteile letztendlich deren Legalität positiv beschieden haben.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.