Die Alternative für Deutschland hat es geschafft. Oder in der Sprache von AfD-Parteichef Tino Chrupalla: „Das blaue Wunder von Sonneberg ist wahr geworden“. Nach zähem Ringen und knappen Niederlagen gegen Allianzen der etablierten Parteien – zuvor bei der Landratswahl im Kreis Oder-Spree (Brandenburg) oder in Görlitz (Sachsen) – ist es der Partei gelungen, eine Wahl mit absoluter Mehrheit zu gewinnen. Mit dem Thüringer Abgeordneten Robert Sesselmann ist am 25. Juni erstmals ein AfD-Politiker in ein kommunales Spitzenamt gewählt worden.
Der 50jährige, Vater dreier Kinder und Fachanwalt für Arbeitsrecht, kann im Thüringer Landkreis Sonneberg, einem kleinen an Franken grenzenden Landstrich, vielleicht noch diese Woche sein Amt als Landrat antreten und den Wählern, aber auch dem politischen Gegner in den kommenden sechs Jahren demonstrieren, daß sein Wahlslogan „gestalten statt verwalten“ ernst gemeint ist. Sesselmann sagte der JUNGEN FREIHEIT: „Zunächst einmal bin ich gespannt, ob ich überhaupt vereidigt werde oder ob, ähnlich der Kemmerich-Wahl zum Ministerpräsidenten, Stimmen geäußert werden, daß die Wahl zu wiederholen sei – bis das Ergebnis stimmt.“ Frühestens am auf die Wahl folgenden Donnerstag könnte er sein Amt antreten, da das Ergebnis noch formal bestätigt werden müsse.
Der öffentlich-rechtliche Mitteldeutsche Rundfunk fragt unterdessen: „Kann ein Mitglied einer extremistischen Vereinigung als Landrat vereidigt werden?“ Im Thüringischen Wahlgesetz heißt es, Landräte verlieren ihr Amt, wenn sie Mitglied in einer als verfassungswidrig eingestuften Partei sind. Laut dem Landratsamt habe aber „der Wahlvorschlag der AfD formal die Anforderungen gemäß dem Thüringer Kommunalwahlgesetz und der Thüringer Kommunalwahlordnung“ erfüllt. Er sei „somit als gültig zuzulassen“ gewesen. Im nachhinein will nun das Thüringer Landesverwaltungsamt Sesselmanns Tauglichkeit prüfen. Thüringens Innenstaatssekretärin Katharina Schenk äußerte Zweifel, weil der Thüringer Landesverfassungsschutz die Landes-AfD als „gesichert rechtsextrem“ einstuft. Das Ergebnis sei völlig offen. Das Landesverwaltungsamt erklärte gegenüber der JF, die Behörde habe eine Prüfung von Amts wegen vorzunehmen, wenn ihr konkrete Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Bestimmungen des Wahlrechts vorliegen.
Die Bundespolitik motivierte viele Wähler stark, AfD zu wählen
Landräte gelten vielerorts als kleine Könige, aber für Sonnberg stimmt das nur bedingt. Zwar ist die Arbeitslosenquote in der einstigen Hochburg der DDR-Spielzeugindustrie niedrig, aber das ist auch der Nähe zu Franken und dem hohen Altersdurchschnitt im mit 56.000 Einwohnern zweitkleinsten deutschen Landkreis geschuldet. Die vorhandenen Jobs sind oft schlecht bezahlt, wenngleich sich die Löhne positiv entwickeln. Die allgemeine Gesundheitsversorgung gilt im Kreis ebenso als schlecht. Der Ausländeranteil liegt bei 8,3 Prozent, deutlich unter dem deutschen Durchschnitt von 28,7 Prozent. Thüringenweit befindet sich Sonneberg damit im oberen Mittelfeld.
Daß seine Gestaltungsräume als politischer Wahlbeamter klein sind und er viele Themen, die den Bürgern bitter aufstoßen, wie die Energie- und Wärmewende, die nicht erfolgende Abschiebung abgelehnter Asylbewerber und die Sanktionspolitik gegenüber Rußland nicht beeinflussen kann, weiß Sesselmann, der seit 2019 für die AfD im Erfurter Landtag sitzt, dazu im Kreistag sowie im Stadtrat seiner Geburtsstadt Sonneberg. Realistisch betrachtet habe der Landkreis drei große Probleme: die Krankenhausfinanzierung, den Kreishaushalt und unerwartete Preissteigerungen im Bausektor, erklärt Sesselmann. Seine Position im Thüringer Landtag wolle er niederlegen. „Ich habe nur eine begrenzte Arbeitszeit“, sagte er. Dies ist vom thüringischen Gesetz auch gefordert.
Landräte seien „nur ein ausführendes Organ von politischen Entscheidungen an anderer Stelle“, dämpft Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) und geht auf Konfrontationskurs. So kritisierte der Minister den Präsidenten des Gemeinde- und Städtebundes des Landes, Michael Brychcy (CDU), dafür, daß dieser offen für eine Kooperation mit AfD-Vertretern auf kommunaler Ebene ist. „Nicht alle in dieser Partei sind Faschisten“, hatte der Bürgermeister von Waltershausen erklärt. Man müsse differenzieren. „Es hilft uns nicht weiter, wenn wir immer nur davon reden, daß wir mit der AfD nicht reden“, so Brychcy.
Sesselmann hat die Stichwahl mit einer knappen Mehrheit von 52,8 Prozent der Stimmen bei einer hohen Wahlbeteiligung von 59,6 Prozent gewonnen. Bemerkenswert ist dabei, daß sich alle anderen Parteien hinter den seit März amtierenden aber nicht gewählten CDU-Landrat Jürgen Köpper gestellt hatten. Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) gesteht ein, daß die Landratswahl im Kreis Sonneberg eine demokratische gewesen sei, und lobt die hohe Wahlbeteiligung. Landesväterlich meint er, „am Ende werden wir damit umgehen müssen“. Sonneberg sei „einer unserer erfolgreichsten Landkreise“ mit einer „sehr starken“ Wirtschaft. Trotzdem hätten die Sonneberger ein Signal des Mißfallens an die Republik gesendet. Andere Politiker von der CDU bis zu den Linken zeigten sich weniger offen. Für Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) stellt die Wahl eines AfD-Politikers als Landrat den „Tiefpunkt unserer Politik seit dem Fall der Mauer“ dar. Von einem „weiteren Tag der Schande“ sprach SPD-Bundestagsabgeordneter Ralf Stegner in einem inzwischen gelöschten Tweet, in dem er auch einen Vergleich mit Hitlers Machtergreifung zog. Aydan Özoguz, SPD-Vizepräsidentin des Bundestags, erinnert daran, daß die „Spur der mordend durch das Land fahrenden Gruppe NSU auch nach Sonneberg in Thüringen“ führe. Ruprecht Polenz (CDU) mahnte: „Zu viele in Thüringen haben vergessen, wie Faschisten an die Macht kamen.“ Dennoch solle man der AfD nicht so viel Aufmerksamkeit schenken, „als stelle die AfD jetzt den Oberbürgermeister von München“.
Finanzminister Lindner: Im Notfall könne man doch die Linke wählen
Für Bundesfinanzminister Christian Lindner verursache die Partei einen Standortnachteil für Südthüringen. Er ging so weit stattdessen eine andere Partei zu empfehlen. „Niemand muß AfD wählen, wenn er populistische Sozialpolitik will.“ Und: „Im Notfall könnte man noch die Linkspartei wählen“, erklärte er bei einem Bürgerdialog in Weimar. Die Landessprecherin der Grünen Ann-Sophie Bohm meint: „Unzufriedenheit ist doch kein Grund, eine rechtsextreme Partei zu wählen.“ Die AfD biete keine Lösungen, sie spiele mit Ängsten. Bohm sorge sich nun um „Migrant*innen, Jüd*innen, Frauen, queere Menschen, Menschen mit Behinderung, antifaschistische Streiter*innen.“ Der CDU-Chef Friedrich Merz versucht die ihm zugeschobene Verantwortung teilweise von sich zu weisen: „Ja, wir haben einen Anteil daran, daß es diese Partei überhaupt gibt. Die ist ja in unserer Regierungszeit entstanden“, sagte er. Doch nun wolle die CDU „noch viel deutlicher Alternativen herausarbeiten. Und deshalb werden für uns die Grünen der Hauptgegner sein in dieser Bundesregierung.“ Denn diese seien für die Polarisierung durch die Umweltpolitik und die Energiepolitik verantwortlich.
In der CDU kann Sesselmann indes keinen starken Gegner erkennen: „Die Union hat seit Merkel ihren Markenkern aufgegeben und wollte alle Wählerschichten bedienen. Das ging schief. Jetzt rutscht sie in die kommunale Bedeutungslosigkeit ab.“ Im Nachbarlandkreis Hildburghausen hat sie noch eine Abgeordnete. In Sonneberg ist sie in zwei Fraktionen gespalten. „Vor Ort leidet sie unter dem Beschluß ihres Bundesvorstandes, in Sachthemen nicht mit der AfD abstimmen zu können, woran sich aber so gut wie kein Kreistagsabgeordneter hält“, weiß Sesselmann.
Der Kommunalpolitiker wird jetzt mit klugen Vorgaben die Kreisräte für sich gewinnen müssen. Vor allem bei den anstehenden Haushaltsverhandlungen, ohne die Bürgermeister der Städte und Gemeinden, die für die Kreisumlage aufkommen müssen, zu verärgern. Der parteilose Bürgermeister der Stadt Sonneberg, Heiko Voigt, spricht schon von einer „konstruktiven Sacharbeit“ und ergänzt: „Sonnebergs Identität sei nicht braun, sondern stehe für Spielzeug, Weltoffenheit, Gastfreundlichkeit, Miteinander und kulturelle Vielfalt.“ Für die kommende Zeit hängt viel von der Mitarbeit der Kreisverwaltung ab, ob sie den von einer Mehrheit der Wähler gekürten Landrat unterstützt oder ihn auflaufen läßt.
Wahlen mit guten Chancen für die AfD
Die Alternative für Deutschland hat gute Chancen, in naher Zukunft zumindest in den östlichen Bundesländern weitere Verwaltungsposten zu ergattern. So kommt es bereits am 2. Juli in der 9.000-Einwohner-Stadt Raguhn-Jeßnitz in Sachsen-Anhalt zu einer Stichwahl, bei der die AfD auf den ersten hauptamtlichen Bürgermeisterposten für die Partei hofft. In der ersten Runde der Bürgermeisterwahl erreichte AfD-Kandidat Hannes Loth 40,7 Prozent der Stimmen. Der Zweitplazierte Nils Naumann (parteilos) kam auf 36,9 Prozent. Auch in anderen kleinen Städten in Sachsen-Anhalt könnte es im Spätsommer Überraschungen geben. Ende September werden in Orten mit hohem AfD-Wähleranteil wie Allstedt oder Arnstein neue Bürgermeister gewählt.
Auch in Sachsen stehen in diesem Jahr Wahltermine auf dem Zettel. Frankenberg wählt am 3. September einen neuen Bürgermeister. Eine mögliche Stichwahl ist für den 23. September angesetzt. Für die 16.000-Einwohner-Stadt in der Nähe von Chemnitz nominierten die AfD-Mitglieder den Stadtratsvorsitzenden Frank Urbanek. Bei der Bundestagswahl 2021 gewann die Partei in der Gemeinde mit deutlichem Vorsprung sowohl die Mehrheit der Zweitstimmen als auch das Mandat.
Auch in der Kreisstadt Pirna gibt es noch in diesem Jahr Wahlen. Am 26. November will der Stadtrat Tim Lochner für die AfD zum Oberbürgermeister der 40.000-Einwohner-Stadt gewählt werden. Bei der Bundestagswahl 2021 stimmten 31,1 Prozent beziehungsweise 29,4 Prozent der Bürger für die AfD und katapultierten sie damit auf Platz 1. Bei den Landratswahlen im vergangenen Jahr mußte die Partei jedoch gegen die CDU eine Niederlage einstecken. (ha)