Ein knappes Jahr vor den Wahlen zum Europaparlament (EP) verstärkt sich in der AfD die Fundamentalkritik an der EU, die einem Leitantrag der Bundesprogrammkommission (BPK) zufolge „geordnet aufgelöst“ und als „neue europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft“ neu gegründet werden soll. Ende Juli will die AfD ihr Europa-Wahlprogramm und die Kandidatenliste auf einem Parteitag in der Messe Magdeburg beschließen. In ihrer Dauer-Fixierung auf die anhaltend hohen AfD-Umfragewerte und den Wahlerfolg bei den Landratswahlen in Sonneberg ist den politischen Gegnern die Brisanz der Programmdiskussion bisher entgangen.
Der nach Angabe von Teilnehmern weitgehend einvernehmlich verabschiedete BPK-Leitantrag läßt an der 1992 gegründeten EU mit ihren derzeit 27 Mitgliedsstaaten kein gutes Haar. Wobei die Anfänge des Staatenbündnisses auf die 1950er Jahre zurückgehen, etwa auf „Montanunion“ und danach die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlanden und der Bundesrepublik. Das Ziel war damals eine Integration durch eine gemeinsame Wirtschafts- und Forschungspolitik (Euratom).
„Undemokratisches Konstrukt und nicht kontrollierbare Bürokratie“
Daran scheint die BPK, der auch die Parteichefs Alice Weidel und Tino Chrupalla angehören, anknüpfen zu wollen. „Die EU und die sie tragenden globalistisch eingestellten Eliten“ hätten sich von der „Ursprungsidee der Gründerväter einer europäischen Gemeinschaft“ vor vielen Jahren verabschiedet, heißt es in dem Antrag. Für die EU der Gegenwart hat das Gremium nur Verachtung übrig. Diese habe sich „zu einem undemokratischen Konstrukt entwickelt“, das immer mehr Gewalt an sich ziehe und von einer „intransparenten, nicht kontrollierten Bürokratie“ regiert werde. „Unsere Geduld mit der EU ist erschöpft“, so das Fazit der Programmkommission, der derzeit 19 Mitglieder angehören. Sie plädieren für eine Volksabstimmung über den Verbleib Deutschlands in der EU.
Sowjetisierung Mittel- und Osteuropas wird ausgespart
Berliner Kommissionsmitglied ist der Abgeordnete Martin Trefzer, nach dessen Ansicht die EU versagt hat. „Da sich die EU als nicht reformierbar erwiesen hat, muß sie durch eine neue Form der europäischen Zusammenarbeit ersetzt werden. Ob Deutschland in der alten EU verbleiben oder einem neuen europäischen Bund beitreten soll und wie weitreichend die europäische Kooperation dann sein sollte, sollen die Bürger in einer Volksabstimmung entscheiden“, betonte Trefzer gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Auch in grundlegenden europapolitischen Fragen brauche man endlich direktdemokratische Mitspracherechte der Bürger statt einer schleichenden Souveränitätsübertragung nach Brüssel.
Der EU-Antrag dürfte auf dem Parteitag für eine kontroverse Debatte sorgen, stellt er doch eine Verschärfung der bisherigen Position der AfD dar. Im Grundsatzprogramm von 2016 war ein EU-Austritt Deutschlands noch von „grundlegenden Reformansätzen“ abhängig gemacht worden. Seit dem Parteitag von Dresden im April 2021 steht der EU-Austritt aber im Wahlprogramm. Auf dem Parteitag in Riesa ein Jahr später hatte der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland gewarnt. „Wer auch immer mit dem Gedanken eines Dexit spielt, muß sich fragen lassen, ist das nicht eine Utopie und sollten wir nicht realistisch sein?“ Vergebens.
Für lautstarke Diskussionen könnte in Magdeburg auch die Passage des Antrags zu Rußland sorgen. „Wir als Deutsche sehen bereits seit mehreren Jahrhunderten, daß es ohne Rußland keinen dauerhaften Frieden in Europa geben kann“. Die brutale Sowjetisierung Mittel- und Osteuropas nach 1945 wird ausgespart. Dieser Satz ist offenbar von der BPK aus dem Antrag gestrichen, durch das Redaktionsteam später aber wieder eingefügt worden.
Doch scheint es vielen in der Partei inzwischen zu reichen. Der Bundestagsabgeordnete Kay Gottschalk, der bisher eher für einen moderaten Kurs stand, will den Leitantrag unterstützen, „da sich die EU in ihrer jetzigen Form als Geldvernichtungsmaschine erwiesen hat, in wesentlichen Fragen dysfunktional ist und für mich als nicht reformierbar einzustufen ist. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“, meinte der Finanzpolitiker gegenüber der JF. Der Leitantrag spricht sich auch für die Wiedereinführung der nationalen Währungen, also der D-Mark aus.
Außerdem will die AfD das EU-Parlament abschaffen, das vom 6. bis 9. Juni kommenden Jahres neu gewählt wird. Wobei die Partei seit ihrem erstmaligen Einzug in das EP 2014 selten durch konstruktive Arbeit von sich reden gemacht hat. Richtungsstreitigkeiten und personelle Querelen lähmten die Arbeit. Bei der letzten Wahl hatte die Partei elf Bewerber nach Brüssel geschickt. Derzeit stellt sie nur noch neun Abgeordnete im EU-Parlament, da unter anderem der frühere Parteichef Jörg Meuthen die AfD verlassen hatte und jetzt als Fraktionsloser dem Parlament angehört. Zur Erinnerung: Nachrücker Meuthen war in der Wahlperiode 2014 bis 2019 als einziger von sieben AfDlern im EP übriggeblieben. Sechs waren im Richtungsstreit gegangen, darunter der Partei-Gründungsvorsitzende Bernd Lucke.
AfD-Leitantrag zur Europawahl 2024: afd.de/
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