© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/23 / 23. Juni 2023

Ein Spiel dauert 40 Minuten
Die „Kings League“ will eine schnelle Form des Fußballs auf kleinem Spielfeld etablieren
Vincent Steinkohl

Sergio „Kun“ Agüero kann es immer noch. Mit verzaubernder Eleganz tanzt er an seinem Gegenspieler vorbei, schießt im ersten Versuch den Torwart an, doch verwandelt den Nachschuß eiskalt. Kurz darauf umkurvt der kleine Angreifer erneut einen hilflosen Abwehrspieler und läßt dem gegnerischen Torwart keine Chance. Am Ende des Spiels kann sein Team einen 4:3-Sieg verbuchen. Die Bilanz des 101fachen argentinischen Nationalspielers, der im Dezember 2021 seine Fußballkarriere wegen einer Herzrhythmusstörung beenden mußte: Zwei Tore und eine Vorlage, Chapeau!

Doch das war kein Benefiz-Fußballspiel zwischen alten Herren, sondern ein Ligaspiel der Kings League. Gegründet von Barcelona-Vereinslegende Gerard Piqué, will die Kings League den Sport revolutionieren. Auf Kleinfeld und Kunstrasen wird Sieben gegen Sieben gespielt, eine Halbzeit dauert lediglich 20 Minuten. An jedem Ligaspieltag werden sechs Spiele am selben Ort ausgetragen. Neben ehemaligen Weltklassefußballern wie Kun Agüero, Andrea Pirlo und Ronaldinho spielen Jungs mit, die auf höchstem Jugendniveau knapp vor der Profilaufbahn gescheitert sind. Zwölf Vereine zählt die Liga, die es bisher nur in Spanien gibt, deren Spiele aber auf Youtube laufen. Ab 2024 wollen die Organisatoren international werden, und auch eine Queens League für Frauenfußball läuft bereits.

Vor dem Spiel wählen die Trainer beider Mannschaften einen zufälligen Umschlag aus. Darin enthalten: eine „Geheimwaffe“, die jedes Team einmal pro Spiel anwenden kann, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Es gibt sechs verschiedene davon. Neben dem klassischen „Elfmeter“ das „Doppeltor“, bei dem für zwei Minuten die eigenen Tore doppelt zählen. Beim „Shootout“ läuft in einer Eins-gegen-eins-Situation ein Spieler von der Mittellinie auf den Torwart zu. Bei der „Sanktion“ muß ein Gegenspieler für zwei Minuten ersatzlos das Spielfeld verlassen. Der „Joker“ berechtigt ein Team dazu, eine beliebige andere Waffe anzuwenden, und der „Diebstahl“ überträgt die Waffe des Gegners dem eigenen Team. 

Projekt von oben und keine Graswurzelbewegung

Den bei vielen Fußballfans unbeliebten Videoschiedsrichter gibt es auch, jedoch in abgewandelter Form. Fühlt sich eine Mannschaft benachteiligt, darf sie den Videobeweis einfordern. Ist der Einspruch berechtigt, wird die Entscheidung zurückgenommen. Hat sich eine Mannschaft zu Unrecht beschwert, darf sie über das ganze Spiel den Videoassistenten nicht mehr einklagen. Eine gelbe Karte bedeutet für den Betroffenen eine zweiminütige Zeitstrafe, eine rote Karte stellt den Übeltäter vom Platz, und erst nach fünf Minuten darf ein Ersatz eingewechselt werden. 

Beim Anstoß lag in der ersten Saison 2022 der Ball auf dem Elfmeterpunkt in der Mitte des Kleinfeldes und beide Mannschaften rannten vom eigenen Tor aus darauf zu. In der seit Anfang Mai laufenden zweiten Saison der neuen Sportart fällt der Ball wie beim Basketball aus der Mitte des Spielfelds herunter. Der erste Zweikampf erfolgt so direkt zu Spielbeginn. Zwei Minuten vor Ende der ersten Halbzeit entscheidet ein großer Würfel darüber, mit wie vielen Spielern pro Mannschaft bis zur Pause weitergespielt wird. Von eins gegen eins bis sechs gegen sechs ist je nach Würfelergebnis alles möglich – und die Zuschauer werden beim Würfeln mit eingebunden. Die Kings League kennt keine halben Sachen, dementsprechend gibt es kein Remis. Konnte nach der regulären Spielzeit kein Sieger ermittelt werden, entscheidet das Elfmeterschießen.

Das Projekt ist eingeschlagen wie eine Bombe. Am letzten Spieltag der vergangenen Saison strömten mehr als 90.000 Fans ins Camp Nou, das Stadion des FC Barcelona. Das schaffte Barca in der vergangenen Fußballsaison nur einmal, im „El Classico“ gegen Real Madrid. Die Idee der Köpfe hinter der Kings League ist aufgegangen: Kinder und Jugendliche mit social-media-trainierter kurzer Aufmerksamkeitsspanne wollen Action und Unterhaltung. Bei der „Königsliga“ bekommen sie genau das. 8,1 Tore fielen in einem durchschnittlichen Spiel in der ersten Saison. Die Bundesliga kam in der vergangenen Spielzeit auf lediglich 3,1. 

Daß das neuartige Spiel den traditionellen Fußball ersetzen wird, ist dennoch unwahrscheinlich. Wer als Kind vom Vater ins Stadion mitgenommen wird, bleibt oft für immer seinem Verein verbunden. Ein 0:0 im Regen ist besser als eine 4:5-Niederlage bei strahlendem Sonnenschein. Auch die Gründungsgeschichten der europäischen Vereine machen die Magie des Sports aus. Die meisten von ihnen sind mehr als hundert Jahre alt und wurden von einfachen Arbeitern zum Freizeitvergnügen gegründet. Dagegen stehen bei der Kings League seit Tag eins ein Marketingplan und Millionen Euro Startkapital. Traditioneller Fußball ist eine Graswurzelbewegung, die Kings League ist ein Spektakel auf Kunstrasen von oben, musikalische Auftritte und Showeinlagen inklusive.