© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/23 / 23. Juni 2023

Frisch gepreßt

Stunde Null in Kiel. Zu ihrem 100. Geburtstag im März 2022 hat sich Ingelene Rodewald selbst beschenkt. Mit ihren gedruckten Erinnerungen an das erste, unter britischer Besatzung verbrachte Nachkriegsjahr, das die Volksschullehrerin in der Ruinenlandschaft der von angloamerikanischen Bomberverbänden verwüsteten Marinestadt Kiel erlebte. Das Büchlein der passionierten Hobbyhistorikerin ist weniger wegen seiner staunenswert präzisen Momentaufnahmen aus schwerer Notzeit bemerkenswert, in der auch für diese „Tochter aus gutem Hause“ die „Stunde der Frauen“ schlug, die ja eine von ihr mit vielen geteilte und heute gut dokumentierte Generationenerfahrung widerspiegelt. Was sich tiefer einprägt, ist der „Geist“, der die Offiziersgattin, aufgewachsen und erzogen im Kreis des holsteinischen Besitz- und Bildungsbürgertums, und ihre weitere Familie befähigte, die Zumutungen des Schicksals zu meistern. Dieser den ganzen Text durchziehende Geist ungebrochenen Selbstbewußtseins und unbeirrbaren Aufbauwillens schlägt sich am unvergeßlichsten in Rodewalds Reaktion auf die Anordnung der britischen Militärbehörde nieder, Deutsche dürften nach 19 Uhr nicht mehr auf der Straße sein: „Ich hielt das für einen Witz. Wir hatten den Krieg verloren, aber Deutschland gehörte doch weiter den Deutschen und nicht den Engländern.“ (wm)

Ingelene Rodewald: Als der Krieg zu Ende war. Kiel 1945 und 1946. Verlag Ludwig, Kiel 2022, gebunden, 112 Seiten, Abbildungen, 16,80 Euro





Franz von Sickingen. Den Ursprung der deutschen schwarzrotgoldenen Flagge verorten Historiker in der Zeit nach den napoleonischen Kriegen um 1815. Die Farben zierten jedoch bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts das Wappen des Reichsritters Franz von Sickingen. Der in der Pfalz geborene Adelige setzte sich zeit seines Lebens für das Ansehen des Ritterstandes ein. Er lehnte sich gegen Fürsten, Kirche und Städte auf und half auch verfolgten Protestanten während der Reformation. Eine große Fehde lieferte sich von Sickingen dabei mit der Nibelungenstadt Worms aufgrund von ausstehenden Schulden seitens der Stadtverwaltung. Zum 500. Todestag des „Ritters des Zorns“ biographiert der Journalist Peter Hain eine rebellische deutsche Persönlichkeit und vergleicht dabei die Ereignisse mit den aktuellen Krisen. Der Kampf um Freiheit, Mißbrauch in der Kirche oder der Abstieg der Mittelklasse waren im 15. und 16. Jahrhundert ebenso präsent wie heute. Die Lektüre liefert somit einerseits einen Einblick in die wilde Zeit der Reformation und dient andererseits als Wegweiser für Leser, welche Antworten auf die aktuellen gesellschaftlichen Spannungen suchen. (jw)

Peter Hain: Der Ritter des Zorns Franz von Sickingen gegen Lug und Trug, für Freiheit und Glaube. Gerhard-Hess Verlag, Uhingen 2023, gebunden, 258 Seiten, 19,90 Euro