Im Frühjahr 1923 brodelt es im Deutschen Reich an allen Ecken und Enden. Die Okkupation des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen hat alles verändert. Die deutsche Reichsregierung geht in den „passiven Widerstand“ und setzt auf Streiks. Ehemalige Freikorpskämpfer reagieren unterdessen mit Sabotageakten und Anschlägen. Erstmals tritt das deutsche Proletariat als „aktiver nationaler Faktor in Erscheinung“, bilanziert der Journalist Hellmuth Elbrechter später in der nationalrevolutionären Zeitschrift Die Tat.
Zu diesem Zeitpunkt gibt es in der KPD deutliche Meinungsverschiedenheiten, wie mit der Krise im Deutschen Reich umzugehen sei. Ziel der kommunistischen Agitation sind bislang vorrangig sozialdemokratische Arbeiter, die unter dem Stichwort „Einheitsfront“ gewonnen werden sollen, um die Revolution voranzutreiben. Im Ruhrgebiet gilt das Motto: „Schlagt Poincaré an der Ruhr und Cuno an der Spree.“ Hauptfeind im Westen ist also der Ministerpräsident der französischen Besatzungsmacht, Raymond Poincaré, während der deutsche Reichskanzler Wilhelm Cuno „nur“ in der Hauptstadt bekämpft werden soll. Doch die Parteilinke, die „Berliner Opposition“, hält den Kurs für verweichlicht. Sie erkennt einen nationalistischen Unterton, der dem Kampf gegen die deutsche Bourgeoise im Wege steht. „Schlagt Poincaré und Cuno, an der Ruhr und an der Spree!“, propagiert deshalb die Berliner KPD als Antwort.
Der russisch-jüdischstämmige Arkadij Maslow, der als theoretischer Kopf der Parteilinken gilt, raunt im März 1923 von einer „Sozialdemokratisierung“ seiner Partei. Von der Radikalisierung in der politisch-ökonomischen Krise profitieren könne nur einer: „Wir haben jetzt einen Konkurrenten, Hitler mit seiner nationalsozialistischen Propaganda. Er knüpft nicht an die demokratischen Illusionen, sondern an die demokratischen Desillusionen, er ist gegen das Parlament, weil die Massen desillusioniert sind vom Parlament. Hitler spricht von einer starken Regierung, und wir mit unserer Art veredelter Erfüllungspolitik locken keinen Hund vom Ofen.“
Keine wirkliche Zusammenarbeit rechter und linker Kreise
In Moskau zerbricht sich derweil auch Karl Radek den Kopf über die Situation. Der 1885 als Karl Sobelsohn in Lemberg geborene Intellektuelle gilt als Deutschlandspezialist der Kommunistischen Internationale, als deren Beauftragter er fungiert. Lange Jahre lebte der wortgewandte Journalist im Deutschen Reich, war nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin-Moabit wegen „Beihilfe zum Spartakusputsch“ und „Geheimbündelei“ inhaftiert. In diesem „Moabiter Salon“ gewährte ihm die Gefängnisleitung sogar den Empfang von hochrangigen Gästen. Auch der spätere Außenminister Walther Rathenau besucht den konspirativen Netzwerker hinter Gittern. Radek sinniert über einen neuen Kurs „von rechts“ für seine Partei und fordert am 17. Mai 1923 in der Parteizeitung der KPD, der Roten Fahne, die Öffnung der „Einheitsfront“ hin zu den Mittelschichten, den „leidenden, irregeführten, aufgewühlten Massen des proletarisierten Kleinbürgertums“.
Am 26. Mai spitzt sich die Lage im Ruhrgebiet zu. Ein französisches Kommando erschießt den Freikorpskämpfer und Saboteur Albert Leo Schlageter, der sofort zum Märtyrer der nationalen Bewegung wird (JF 22/23). Die Rote Fahne vermeldet trocken in einer Randspalte: „Am Sonnabend früh bei Sonnenaufgang ist der zum Tode verurteilte Schlageter von den Franzosen standrechtlich erschossen worden.“
Einen Monat später folgt der große Moment von Karl Radek. Am 20. Juni hält der KPD-Politiker auf der Sitzung der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale in Moskau seine wohl berühmteste Rede, in der er den Tod Schlageters aufarbeitet. Am 28. Juni druckt auch die Rote Fahne Radeks Worte ab und macht sie einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Schon der Titel ist nicht zufällig gewählt: „Leo Schlageter, der Wanderer ins Nichts.“ Radek nimmt damit Bezug auf den gleichnamigen Roman des Freikorpskämpfers Friedrich Freksa von 1920.
Radeks Worte über Schlageter überraschen: „Die Geschicke dieses Märtyrers des deutschen Nationalismus sollen nicht verschwiegen, nicht mit einer abwerfenden Phrase erledigt werden. Schlageter, der mutige Soldat der Konterrevolution, verdient es von uns, Soldaten der Revolution, männlich ehrlich gewürdigt zu werden“, erklärt der KPD-Mann und führt aus: „Wer im Dienste der Schieber, der Spekulanten, der Herren von Eisen und Kohle versuchen will, das deutsche Volk zu versklaven, es in Abenteuer zu stürzen, der wird auf den Widerstand der deutschen kommunistischen Arbeiter stoßen. Sie werden auf Gewalt mit Gewalt antworten. Wer aus Unverständnis sich mit den Söldlingen des Kapitals verbinden wird, den werden wir mit allen Mitteln bekämpfen. Aber wir glauben, daß die große Mehrheit der national empfindenden Massen nicht in das Lager des Kapitals, sondern in das Lager der Arbeit gehört. Wir wollen und wir werden zu diesen Massen den Weg suchen und den Weg finden.“
Die Rede sorgt für immenses Aufsehen – sowohl in linken wie in rechten Kreisen. Man müsse vor Scham erröten, wenn man lese, „mit welcher Ehrfurcht dieser kommunistische Russe von Schlageter spricht“, bemerkt Schlageters ehemaliger Freikorpsführer Walter von Medem. In beiden politischen Lagern entwickelte sich eine Debatte, deren Wortführer auf der einen Seite Karl Radek und auf der anderen Seite vor allem Arthur Moeller van den Bruck sind, der Nationalismus und Sozialismus zusammen denken will. Der Publizist greift in der jungkonservativen Zeitschrift Das Gewissen, „zweifelsohne das einzige denkende Organ der deutschen nationalistischen Kreise“, wie Karl Radek süffisant anmerkt, mehrmals die Schlageter-Rede auf.
Der Zustrom „klein-bürgerlicher Massen“ bleibt aus
In der bürgerlichen Presse raunt man schnell von einer „nationalbolschewistischen“ Annäherung. Doch der Einfluß dieser politischen Strömung, die sich ein Bündnis zwischen den beiden „proletarischen Nationen“ Deutschland und Rußland herbeisehnt, um den kapitalistischen Westen zu bezwingen, ist in der Realität marginal. Die Vorstellung einer solchen Krisenlösung findet in den Jahren 1918 bis 1933 immer nur dann größeren Widerhall, wenn die soziale und die nationale Substanz gleichermaßen gefährdet ist und die Vertreter der sozialen und nationalen Frage demselben Feind gegenübertreten – wie eben in der Ruhrkrise. An eine wirkliche Zusammenarbeit rechter und linker Kreise ist jedoch kaum zu denken.
Auch Radeks „Schlageter-Kurs“ dient zunächst einer bewußten Inszenierung und muß als rein taktisches Mittel verstanden werden. Der gewiefte Intellektuelle will den Rechten die „nationale Frage“ entreißen, um auf diesem Weg die Revolutionierung der Massen voranzutreiben. Viele Vertreter der KPD glauben, die Nationalisten eindämmen oder sogar bekehren zu können. Hinzu kommt der Zweifel, ob die KPD sich nach einem Putsch, der 1923 zum Greifen nah ist, überhaupt allein an der Macht halten könne. Da braucht es zur Not jeden Mann. Schlußendlich wird der „Schlageter-Kurs“ von großen Teilen der Partei unterstützt – mitunter sogar von der linken Opposition.
Die Berliner KPD-Funktionärin Ruth Fischer hält im Juli 1923 vor völkischen Studenten eine bemerkenswerte Rede, gespickt mit antisemitischen Untertönen: „Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. Sie sind gegen das Judenkapital und wollen die Börsenjobber niederkämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber meine Herren, wie stehen Sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner …?“
Einzelne Ortsgruppen der Kommunisten agitieren im Sommer ’23 nationaler und verlassen zunehmend die taktische Ebene, die Radek vorschwebt. „Hochverräter verschachern Deutschland an den Erbfeind“, heißt es etwa in einem Flugblatt. Doch am Ende bleibt es bei Proklamationen. Der erhoffte Zustrom der „kleinbürgerlichen Massen“ bleibt aus. Mit dem Scheitern der Revolution im Oktober 1923 nimmt der „Schlageter-Kurs“ der KPD ein jähes Ende. Kurze Zeit später ist auch die Parteikarriere von Karl Radek vorbei. Er wird offiziell für das Scheitern der Revolution verantwortlich gemacht. 1927 schließt Stalin den Trotzki-Vertrauten aus der Partei aus und verbannt ihn nach Sibirien. Zehn Jahre später landet Radek nach dem 2. Moskauer Schauprozeß in einem Lager, wo er verstirbt. Mithäftlinge sollen ihn auf Befehl erschlagen haben.