Es gab Zeiten, in denen Dinge ein Leben lang hielten. Oder doch fast. Dann erfanden gewitzte Marketingstrategen die geplante Obsoleszenz und verkürzten die Nutzungsdauer vieler Produkte, so daß bereits nach wenigen Jahren eine Neuanschaffung nötig wurde. Das kurbelte den Konsum an und führte zu unserer viel kritisierten Wegwerfgesellschaft. Jedoch beschränkt sich dieser bewußt herbeigeführte Verfall bei weitem nicht nur auf Gebrauchsgegenstände: Wir sind heute Zeugen davon, wie eine alles umfassende Dekonstruktion tradierter Werte – von Familie über Kultur bis Religion und Identität – die Bindungsfähigkeit westlicher Gesellschaften erlahmen läßt bis zu ihrem Zerfall.
In seinem Romandebüt „Materialermüdung“ thematisiert Dietrich Brüggemann diesen Verfall von Bindungen – sowohl innerhalb von Materie als auch in Familie, Freundschaft und Gesellschaft. Dabei oszilliert das fast 500 Seiten starke Buch zwischen Selbstfindungstrip, Roadmovie und apokalyptischer Komödie, angefüllt mit Situationen, die dem wahren Leben in seiner ganzen Absurdität abgeschaut sind, sowie mit rasanten Dialogen und klugen Gedankengängen. Im besten Sinne der Komödie läßt Brüggemann seine Figuren mit all ihren Wünschen und Illusionen auf die Realität prallen – ein wahres Vergnügen und bisweilen auch eine schmerzhafte Erfahrung, wenn der Autor den Finger tief in die Wunden unserer Gesellschaft steckt. Allerdings: Brüggemann bleibt bei seinen Schilderungen stets ein verständnis-, ja fast liebevoller Beobachter, dem nichts Menschliches fremd zu sein scheint.
Auf der Suche nach einem eigenen kreativen Ausdruck
Die Freunde Jacob, Maya und Moses gehören zur Berliner Kulturboheme: Zwischen wenig sinnstiftenden Jobs, dem simulierten Leben in Sozialen Medien und immer neuen Sensibilitäten im gesellschaftlichen Miteinander suchen sie nach einem eigenen kreativen Ausdruck. Dabei stoßen sie auf unzählige Fragen zu Liebe, Freundschaft und Familie. Der Roman beginnt mit einer Vertreibung aus dem Paradies. Ein Paradies jedoch, das keines ist, denn das Häuschen im Brandenburgischen, das Jacobs Vater bewohnt, ist alles andere als ein Idyll, der Vater ein Messie und vollendet unsympathischer Mensch. In seinem in Kleinstauflage erscheinenden „Sokrates“-Report verbreitet er sogenannte Verschwörungstheorien, die sich am Ende allerdings als faktisch richtig erweisen. Doch wer glaubt schon einem Schwurbler?
In den väterlichen Früchten der Erkenntnis ist also der Wurm drin, und so werden sie von Maya und Jacob verschmäht. Damit beginnt eine Tour de force durch eine Welt, die zunehmend brüchig wird: Jacob, Musiker und Komponist, trifft auf eine rätselhafte Frau, die zu seiner geheimen Muse wird. Trotz dieser neuen Inspirationsquelle unterliegt er in einem Wettbewerb dem perfekten, doch seelenlosen Output einer Künstlichen Intelligenz. Maya wiederum baut auf die gemeinsame Schaffenskraft innerhalb eines Theaterkollektivs, das durch den Mut der Talentlosen zu einer kurzfristigen Bekanntheit gelangt ist. Nun, da ein neues Stück für eine renommierte Bühne konzipiert werden soll, gähnt die inspirative wie konzeptuelle Leere. Stattdessen wird aus dem Kollektiv ein Rudel von Hyänen, die sich gegenseitig die besten Brocken, also Ruhm und Anerkennung, streitig machen.
Die schillerndste Figur des Romans ist Moses, Jacobs bester Freund und Mayas Gegenpart im verbalen Florettfechten. Er ist das Produkt eines One-Night-Stands seiner die kulturelle Revolution lebenden Mutter mit einem nicht näher verorteten Nordafrikaner. Ihm verdankt Moses seinen dunklen Teint und die prägnante Nase, weshalb er sich selbst als „Fakekanake“ bezeichnet. Im Auftrag seines nicht-biologischen Vaters begibt sich Moses auf die Suche nach seiner verschollenen Schwester und wird so kreuz und quer durch Deutschland geführt. Dabei begegnet er seiner großen Liebe, die ihn jedoch später der „sublimierten Vergewaltigung“ bezichtigt: Um „strukturellem Rassismus“ zu entgehen, bzw. nicht als Amazon-Bote verkannt zu werden, hatte sich Moses einer vorgetäuschten Herkunft bedient. Das bringt ihm einen veritablen Shitstorm sowie einen Haftbefehl ein. Soviel also zu fluiden Identitäten.
Menschengemachter Verfall in Familie und Gesellschaft
Dietrich Brüggemann wurde nicht zuletzt als Mitinitiator der Aktion #allesdichtmachen bekannt, bei der im April 2021 prominente Filmschaffende in satirischen Videoclips die Corona-Maßnahmen kritisierten. 1976 geboren, studierte er Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam. Die oft in Zusammenarbeit mit seiner Schwester Anna Brüggemann entstandenen Drehbücher und Filme feierten Erfolge sowohl bei Kritik und Publikum, wie zuletzt die Tragikomödie „Nö“ von 2021. Immer wieder zeichnet Brüggemann Portraits von Generationen, Liebesbeziehungen und Familienbanden; in „Kreuzweg“ von 2014 kam das Thema Religion, wenn auch in repressiv ausgeübter Form, hinzu. Den Film „Heil“ (2015) wiederum bezeichnete der Filmdienst als „schrill-rasante Zeitgeist-Farce, die gnadenlos Problemzonen deutscher Mentalität bloßlegt“: Hier werden nicht nur Neo-Nazis, sondern auch der deutsche Verfassungsschutz sowie die Antifa aufs Korn genommen.
Alle diese Themen finden sich auch im Roman „Materialermüdung“ wieder. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus spielt hier nur eine Nebenrolle – wenn auch eine bedeutsame: In einer absurden Interpretation der deutschen Vergangenheit (wie auch des Feminismus) produziert Moses’ Mutter Kuckuckskinder als „Racheakt am deutschen Volk“, was ihr Ehemann wiederum als persönliche Sühne für die jene Greueltaten mitträgt. Belastbare Familienbande entstanden dadurch nicht. Auch Jacob und Maya kommen aus dysfunktionalen Familien, in denen überzogener Leistungsdruck, überhöhte Selbstbezogenheit sowie ein allgemeines Desinteresse am Kind an der Tagesordnung waren. Die Vermutung liegt nahe, daß sich genau hier – im Fehlen von Liebe, Anteilnahme und Verständnis – die geplante Obsoleszenz, der menschengemachte Verfall in Familie und Gesellschaft verortet. Worauf nicht zuletzt der satirisch-utopische Epilog schließen läßt.
Auch die biblische Heilsgeschichte zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman, dessen Protagonisten sich nicht zuletzt nach einer starken Vaterfigur, einem heilenden und Konflikte lösenden Deus ex machina sehnen: „Die reale Welt erzeugte absurde Geschichten, die zwangsläufig auf immer größeres Chaos hinausliefen, bis am Ende nur noch ein Gott das Ganze retten konnte.“ Denn der menschengemachte Zerfall breitet sich immer weiter aus, zerstört Gegenstände, Gebäude und Infrastruktur. Das alles wird lakonisch, fast nebensächlich geschildert; selbst als der Berliner Fernsehturm einfach umfällt, geht das dadurch erzeugte Beben im allgemeinen Tumult unter. Am Ende löst sich die Welt in eine Sintflut aus unverbundenen Partikeln auf, in der die Menschen, trotz zaghafter Versuche von Solidarität und Freundschaft, rettungslos treiben und untergehen.
Die Deutschen seien, so sinniert eine der Romanfiguren, „jederzeit bereit, die offensichtlich sinnvollen Dinge des Lebens wegzuwerfen für eine Idee, der sie sich mit Haut und Haaren verschrieben und die sie bis zur letzten Konsequenz durchziehen mußten, koste es, was es wolle.“ Ein Klischee, durchaus. Doch je mehr die Hinterfragung der aktuellen Ideologien und Narrative tabuisiert werden, desto mehr Wahrheitsgehalt beinhaltet dieses Klischee. Wie in vielen seiner Filme zeigt Dietrich Brüggemann auch mit „Materialermüdung“, daß er zu jenen aufmerksamen Beobachtern gehört, die auf die vielfältigen ideologischen Stolperstellen innerhalb der Gesellschaft aufmerksam machen. Und das mit Witz und Empathie.
Dietrich Brüggemann: Materialermüdung. Roman. Edition W GmbH, Frankfurt/Main 2022, gebunden, 490 Seiten, 25 Euro