Wie bestellt und nicht abgeholt steht es da. Den Blick auf die karge, bis an den Horizont reichende Wüstenlandschaft gerichtet. In der Straßenmitte, auf einer Verkehrsinsel stehend. Angebunden an einem Laternenmast. Fliegen schwirren um das Maul des Dromedars, dessen Gesichtszüge so ratlos wirken, wie die ersten Eindrücke der JF bei der Ankunft in Mahdia, einer tunesischen Küstenstadt am Mittelmeer, gut 150 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis gelegen.
Zwischen Mahdia und Tunesiens zweitgrößter Stadt Sfax, die weitere 150 Kilometer südlich liegt, sollen sich Migrations-Hotspots befinden, von denen sich Zehntausende Einwanderer auf den Seeweg Richtung Italien aufmachen. Noch einmal 150 Kilometer weiter, doch diesmal in östlicher Richtung von Mahdia, befindet sich Italiens südlichste, nah am afrikanischen Kontinent gelegene Mittelmeerinsel Lampedusa. Der kürzeste Weg von Tunesien in die EU, der sich zur Hauptroute der Migranten nach Europa entwickelt hat.
Laut Angaben der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex kamen 2023 bisher allein über diese zentrale Mittelmeerroute über 50.000 Menschen nach Italien. Eine Zunahme von über 300 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Nur: Wo sind die Migranten? Die Zehntausenden von Menschen, die sich aus den Ländern südlich der Sahara auf ihren weiten Weg in das nordafrikanische Land aufgemacht haben, um von hier über das Mittelmeer nach Europa überzusetzen?
Rundgang durch die Medina, die Altstadt, von Mahdia. Verkaufsstände mit Kleidung, Schmuck, Souvenirs. Schwarzafrikaner? Fehlanzeige. Ein Mann winkt. Er stellt sich als Ali vor, spricht fließend Deutsch. Einer von vielen, die jahrelang in Deutschland arbeiteten und sich von dem Ersparten eine Existenz in Tunesien aufbauten.
„Migranten? Alle wieder weg“, beteuert Ali und preist der JF seine Gewürze an. „Safran, Chili, Curry. Alles dabei. Riech mal dran: beste Gewürze von ganz Mahdia.“ Ich bleibe skeptisch und frage Ali erneut nach den Migranten. „Wer illegal nach Tunesien kommt, wird abgeschoben. Das ist bei uns genau wie in Deutschland.“ Mir ist nicht ganz klar, ob er mich hinters Licht führen will oder ob das ironisch zu verstehen ist. „Hast du schon am Chili gerochen?“ Ja.
Die Fischer der Region kennen die besten Schmuggelrouten
Als Ali beginnt, noch etwas über Menschenrechte zu erzählen und darüber, daß man diese in Tunesien streng einhalte, verschwindet er in der Schublade „unglaubwürdige Informationsquelle“. Bis er von seinem Freund Hassan berichtet. „Der kann dir mehr sagen, er ist mit vielen Fischern hier befreundet.“ Und die wiederum könnten so einiges darüber berichten, was auf dem Mittelmeer zwischen Tunesien und Lampedusa vor sich geht.
Ali ist wieder im Spiel. „Hast du auch am Safran gerochen?“ Nein. Aber für ein Gespräch mit Hassan läßt sich darüber reden. „Am besten kaufst du gleich mehrere Päckchen, dann kann ich einen besseren Preis machen.“ Klar. „Hast du eine Frau, Kinder? Ja? Dann besser gleich mehr. Sechs oder acht?“ Zwei reichen, um zu Hassan zu gelangen. „Du hast Glück, sein Laden ist gleich um die Ecke. Junge Frauen zeigen dort historische tunesische Gewänder, das mußt du sehen.“ Zwei Straßen weiter präsentiert Hassan statt junger Frauen alte Teppiche. „Die beste Qualität von Mahdia.“ Das kennen wir schon. Neu ist Hassans Hinweis auf Obsthändler und Fischer und deren Bootsanlegestellen im Hafen.
Es ist das nächste Ziel auf der Suche nach den Migranten. Der erhoffte Teppichkauf muß ebenso ausfallen wie der angebotene Tee. Nach zäher Verabschiedung Gang zum Hafen. Vorbei an verlockenden Säcken mit Nüssen, Zwiebeln, Ingwer und Chilischoten. Exotische Gerüche undefinierbarer weiterer Gewürze vertreibt eine frische Meeresbrise, als wir uns den Booten nähern. Fischernetze liegen auf einem großen Haufen. Dunkelhäutige junge Männer mit Bärten werkeln auf den Kähnen an dicken Tauen herum. Andere stapeln Obst an Bord. Selbst hier spricht jemand Deutsch. Youssef, ein drahtiger Mann, 23 Jahre jung. Das Gespräch mit ihm über die Migranten beginnt verhalten. Von „schlimmen Geschichten“ wisse er, ohne zunächst konkreter zu werden.
Nur scheibchenweise rückt er mit seinem Wissen heraus. Über die Leichen aus den gekenterten Migrantenbooten, die sich ab und zu in den Netzen der Fischer verfangen. „Schwarze, auch Tunesier. Grausamer Anblick.“ Über andere Fischer, die sich mit der illegalen Migration ein lukratives Zubrot erwerben, indem sie ihre zahlenden Passagiere zum Teil bis an die Grenze italienischer Hoheitsgewässer chauffieren. „In Mahdia wirst du keine Schwarzen sehen. Die sind alle in Sfax oder La Louza“, verrät Youssef. Ein Grund: Die hohen Mieten im hiesigen Touristenort, die Schleuser können in Sfax weitaus günstigere Zimmer für ihre Klienten erhalten.
Polizeikontrollen halten Migranten von den Touristenstädten ab
Ein weiterer Grund dafür zeigt sich 20 Kilometer weiter südlich. Mit dem Sammeltaxi ist die JF in Richtung Sfax unterwegs. Plötzlich stoppt der mit zehn Insassen vollgestopfte Kleinbus. Polizei auf der Straße. Ausweiskontrolle. Neun Tunesier kramen ihre ID-Card hervor. Der einzige Europäer im Fahrzeug hat seinen Reisepaß im Hotel gelassen. Also Personalausweis gezückt. Doch der ist abgelaufen. Oje. Egal. Dem Uniformierten das Dokument in die Hand gedrückt. Der schaut es sich an. Blickt drauf, blickt hoch. Dann wieder drauf. Etwas ratlos winkt er einen Kollegen heran, zeigt ihm den Ausweis. Die beiden diskutieren, ziehen schließlich einen Vorgesetzten hinzu. Der kommt zum Sammeltaxi. „Reisepaß dabei?“ Nein, der ist im Hotel. Nochmals Diskussion. Schließlich Rückgabe des abgelaufenen Dokuments, die Fahrt kann weitergehen.
Dann, im Ort Melloulèche, nur wenige Kilometer hinter der Polizeikontrolle, erblickt man eine andere Welt. Dutzende Schwarzafrikaner sind auf den Straßen. Frauen, die versuchen, Autofahrern Wasser zu verkaufen. Männer, die für ein paar Dinar anbieten, die vom Wüstenstaub verdreckten Fahrzeuge zu reinigen. Links und rechts der Straße kilometerweit versprengte Gruppen von Schwarzafrikanern auf dem Weg nach Louza, einem Hotspot für die illegale Überfahrt nach Europa. Manchmal sind es Gruppen von bis zu 50 Personen. Oftmals sind sie jedoch zu zweit oder dritt unterwegs. Ein Treck, der Erinnerungen an den Kontrollverlust von 2015 weckt. Und die tunesischen Behörden scheinen dem Treiben ähnlich hilflos gegenüberzustehen wie ihre Kollegen in Europa.
Es folgen weitere Kontrollposten. Diesmal ohne Halt und Ausweiskontrolle. Wenige Kilometer davor versiegt der Migrantenstrom, bahnt sich andere Wege jenseits der Hauptstraße. Um auf dieser ihren Weg in gebührendem Abstand hinter der Polizeipräsenz wieder fortzusetzen.
Schnell wird klar: Die Kontrollstellen sind nur in einem Bezug effektiv: Darin, die Migranten vom Touristenort Mahdia fernzuhalten. Die vielen europäischen Urlauber, die das Land jährlich bereisen, bekommen von den Wanderungsströmen in ihre Heimatländer auf diese Weise nur wenig mit. Es sei denn, sie fahren in die Altstadt von Sfax. Hier, vor deren mächtigen, mittelalterlichen Mauern in der Nähe des Fischmarktes, gibt es einen Platz, der als Treffpunkt für Schleuser und Migranten gilt: Bab Jebli. Hunderte von Schwarzafrikanern tummeln sich hier. Ebenso Einheimische aus dem Süden Tunesiens. Beide Gruppen verbindet das gleiche Ziel: einen Schleuser auftreiben, der ihnen die Überfahrt nach Europa ermöglicht. Handyverkäufer fädeln Deals mit den Migranten ein, statten sie mit neuen Mobiltelefonen aus. Einige von ihnen agieren sogar als Telefonverkäufer und Schleuser gleichzeitig, wie die JF aus einigen Wortfetzen in unmittelbarer Nähe solcher Deals entnehmen kann. Preise werden genannt, deren Höhe sich nicht auf Mobiltelefone, wohl aber auf eine Bootsüberfahrt beziehen dürfte. „Tunesische Jugendliche haben mir mein Telefon abgenommen. Sie machen das mit vielen von uns“, klagt einer der Schwarzafrikaner im Gespräch mit der JF. Jetzt will auch er sich in Bab Jebli ein neues Handy besorgen.
Weitere Schwarze stehen gruppenweise mit Telefonverkäufern zusammen, werden eine Weile später zu Taxis gelotst, mit denen die jeweilige Gruppe davonfährt. Möglicherweise ebenfalls nach Louza, um eines der Boote Richtung Europa zu ergattern. Der sich mit der JF unterhaltende Mann schweigt dazu, wird nervös. Andere Migranten wollen auch nicht reden. Besonders auf Film- und Fotoaufnahmen reagieren die meisten ungehalten. Die Geschäfte sollen unauffällig über die Bühne gehen. Ein weiterer Farbiger, Zaidu, gibt sich offener. „Hier rund um diesen Platz wird alles ausgehandelt: Zimmer, Mobiltelefone, Überfahrt, Taxifahrt. Einfach alles.“ Er selbst will auch bald Richtung Europa aufbrechen, meint der Nigerianer. Und bestätigt, daß die Schlepper ähnlich wie auf den Routen im östlichen Mittelmeer unterschiedliche Preiskategorien anbieten. Je nachdem wie zahlungskräftig man sei, könne man verschiedene Schiffsplätze bekommen: vom Schlauchboot über das Fischerboot bis hin zur Segelyacht. Das Ziel bleibt immer gleich: Lampedusa, der Vorposten Europas.
Wie es dort für die Migranten weitergeht und wie italienische Behörden versuchen, sich gegen die illegale Massenmigration zu behaupten, lesen Sie in der nächsten JF-Ausgabe.