© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/23 / 23. Juni 2023

Noch immer betroffen
Opfer des SED-Regimes: Auch über 30 Jahre nach dem Mauerfall ist die Situation vieler DDR-Dissidenten prekär
Jörg Kürschner

Die SED-Opferbeauftragte Evelyn Zupke appelliert angesichts des 70. Jahrestag sdes Volksaufstands vom 17. Juni an die Politik, die soziale Lage der ehemaligen politischen Gefangenen endlich zu verbessern. „Aufgrund ihrer eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten geraten sie zunehmend an den Rand der Gesellschaft und sind an ihrer sozialen Teilhabe gehindert“, heißt es in ihrem Jahresbericht. Deshalb müsse die Opferrente von derzeit monatlich 330 Euro zunächst erhöht und anschließend dynamisiert werden. Die Inflation laste schwer auf den Betroffenen.

Zupke forderte erneut einen bundesweiten Härtefallfonds, der laut Koalitionsvertrag zwar geplant, aber aufgrund von Zuständigkeitsstreitigkeiten innerhalb der Bundesregierung immer noch nicht eingerichtet worden sei. Das sei eine „schwache Leistung“. Ein solcher Fonds eröffne erstmals eine Möglichkeit, daß SED-Opfer, die sich wirtschaftlich in einer prekären Lage befinden, unabhängig von ihrem Wohnort schnelle und unbürokratische Unterstützung erhalten könnten. Nach derzeitiger Rechtslage können viele Betroffene, die in Westdeutschland leben, nicht auf die bereits bestehenden Härtefallfonds in den meisten ostdeutschen Ländern zugreifen.

Es sei „dramatisch“, daß so viele Anträge erfolglos bleiben

Gescheitert ist nach Ansicht der SED-Opferbeauftragten das bisherige Anerkennungssystem von verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden. Es sei „dramatisch“, daß zwischen 80 und 90 Prozent der Anträge erfolglos blieben. Sachbearbeitern fehle es häufig an Wissen. Die frühere DDR-Bürgerrechtlerin plädierte dafür, daß bei den Opfern automatisch von psychischen und physischen Schäden ausgegangen wird. Nicht anders werde bei Soldaten mit posttraumatischen Störungen nach Auslandsaufenthalten verfahren. Derzeit müsse im Anerkennungsverfahren nachgewiesen werden, „daß der ursächliche Zusammenhang zwischen dem heutigen Gesundheitsschaden und der Jahrzehnte zurückliegenden Repression belegt werden kann“.

Laut Jahresbericht war die SED-Opferbeauftragte auch international aktiv, um Todesfälle an der innerdeutschen Grenze aufzuklären. Die Amtshilfe habe dazu geführt, daß die tschechische Justiz Anklage gegen Vratislav Vajnar erhoben hat, der von 1983 bis 1988 Innenminister der damaligen CSSR war. „Mit dem am 25. April 2023 begonnem Prozeß muß sich erstmals ein ehemaliger Minister im Zusammenhang mit Todesfällen am früheren Eisernen Vorhang zwischen Ost und West vor Gericht verantworten“, heißt es in dem Jahresbericht.

Von den sechs Opfern stammten fünf aus der DDR oder aus der Bundesrepublik. Darunter war auch der 18jährige Hartmut Tautz aus Magdeburg, der bei der Flucht von aufgehetzten Hunden der tschechoslowakischen Grenzsoldaten regelrecht zerfleischt worden war. Zupke plant in diesem Herbst dazu eine Informationsveranstaltung im Bundestag.

In dem Jahresbericht geht es auch um Zwangsarbeit in DDR-Gefängnissen für westdeutsche Unternehmen. Zupke kritisierte den früheren Otto-Versand, der die teils von politischen Gefangenen in Cottbus produzierte Kamera „Praktica“ in Westdeutschland vertrieben habe. Ihre Gesprächsangebote habe der Vorstand abgelehnt. Die Otto-Group, Rechtsnachfolger des Versands, wies die Vorwürfe zurück, „sprach von einer „Kampagne der Opferverbände“. Ausdrücklich lobte Zupke das schwedische Unternehmen Ikea, das eine Entschädigung in Millionenhöhe zugesagt habe, vorausgesetzt andere Firmen würden sich auch daran beteiligen.

Erfreut zeigte sich die Opferbeauftragte, daß der Bundestag ihre Anregungen zum Teil aufgegriffen habe. In dem Antrag der Ampel-Parteien wird allerdings einschränkend auf die „zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel“ verwiesen. Ansonsten ist wiederholt von einer „zeitnahen Umsetzung“ die Rede, etwa auch bei dem seit 2015 vom Bundestag geforderten Mahnmal für die Opfer der kommunistischen Diktatur. Der Standort steht inzwischen fest, der Baubeginn läßt weiter auf sich warten.