© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/23 / 23. Juni 2023

Dem David die Schleuder wegnehmen
EU-Politik: Der Bundestag möchte die Prozenthürde für das Europäische Parlament erhöhen
Jörg Kürschner

Nahezu unbemerkt da eingeklemmt zwischen Megathemen wie EU-Asylrechtskompromiß und Medikamentenmangel hat der Bundestag erste Voraussetzungen dafür geschaffen, Kleinstparteien die Wahl in das Europäische Parlament (EP) zu erschweren. Ab 2029 soll eine Sperrklausel von zwei Prozent dafür sorgen, daß eine Zersplitterung der Fraktionen verhindert und damit die Arbeitsfähigkeit des EP gesichert wird. Bei der letzten EP-Wahl 2019 reichte etwa ein Prozent für die Fahrkarte nach Brüssel und Straßburg.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht die bis 2009 geltende Fünf-Prozent-Hürde 2011 und drei Jahre später auch die Drei-Prozent-Klausel gekippt hatte, soll es dieses Mal klappen. Ampelparteien und Union berufen sich auf einen Beschluß des Rates der Europäischen Union von 2018, dem unter anderem die 27 Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten angehören. Ein erneutes Veto sei dem höchsten deutschen Gericht damit verwehrt, das sein Urteil damals mit einer Verletzung der Wahlrechts- und Chancengleichheit politischer Parteien begründet hatte. Zudem sei der Ratsbeschluß, für Deutschland verpflichtend.

Groll gegen die Richter sitzt auch heute noch tief

Da eine Sperrklausel bei Europawahlen zwei Urteilen des Bundesverfassungsgerichts aber widerspricht, ist für die deutsche Zustimmung zu den Vorgaben aus Brüssel die verfassungsändernde Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und des Bundesrats erforderlich. Dafür sorgen CDU/CSU mit ihren Stimmen. Und der Union kann die Einführung einer Sperrklausel nicht schnell genug gehen. „Sofern Spanien und Zypern rechtzeitig ratifizieren, können wir die Prozenthürde auch noch zur Europawahl 2024 einführen“, meinte der Unionsabgeordnete Tobias Winkler.

Seinerzeit fühlten sich die EP-Abgeordneten gegenüber ihren Kollegen im Bundestag durch die Verfassungsrichter zurückgesetzt, ja gekränkt. Hatten sie doch tatsächlich klar zwischen EP und Bundestag unterschieden. Das Erfordernis der Funktionsfähigkeit habe im EP eine geringere Bedeutung, das zwar auf dem Weg sei, sich als institutioneller Gegenspieler der EU-Kommission zu profilieren, hieß es. Diese Entwicklung könne aber noch nicht mit der Situation im Bundestag verglichen werden, „wo die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig ist“. Das hatte gesessen.

Der Groll gegen die Richter sitzt auch heute noch tief. „Wir sind die erste Gewalt“, rief der SPD-Abgeordnete Axel Schäfer in der abschließenden Lesung des Bundestages aus und schimpfte: „Wir haben jetzt zehn Jahre lang die Erfahrung einer Renationalisierung bei unserem höchsten Gericht gemacht.“ Zwar fremdeln auch die Grünen mit der Sperrklausel, tragen sie aber mit. „Europafeindliches Gerede“ hielt Anton Hofreiter, Vorsitzender des Europaausschusses, der AfD und der Linken vor.

Letztere, der selbst das Schicksal einer Kleinstpartei droht, hatte darauf hingewiesen, daß von neun Einzelbewerbern acht ihren Weg in Fraktionen gefunden hätten. Die Arbeitsfähigkeit sei also nicht bedroht. Mit der Neuregelung fielen aber 1,7 Millionen Wählerstimmen unter den Tisch, empörte sich der Bundestagsabgeordnete Alexander Ulrich. Dessen Fraktionskollegin Sahra Wagenknecht nahm an der Abstimmung nicht teil. Ihr wird die Absicht nachgesagt, eine eigene Partei zu gründen. Sollte das Planspiel tatsächlich umgesetzt werden, würde sich für eine Premiere die Europawahl am 9. Juni 2024 eignen, da keine Sperrklausel gilt.

Die AfD lehnte den Gesetzentwurf noch aus einem anderen Grund ab. Die beabsichtigte EU-weite elektronische Stimmabgabe per Wahlcomputer oder per Internet sei hinsichtlich der Nachprüfbarkeit des Ergebnisses „höchst bedenklich“, kritisierte der Parlamentarier Fabian Jacobi. Bei der Wahl 2019 erhielten Freie Wähler und „Die Partei“ jeweils zwei Sitze, Piratenpartei, Tierschutzpartei, Familienpartei, ÖDP und Volt jeweils einen Sitz. Nach der Wahl im nächsten Jahr soll das EU-Parlament von 705 auf 716 Abgeordnete wachsen. Der Grund: In einigen Ländern ist die Zahl der Einwohner gestiegen. In Deutschland ändert sich nichts..