Herr Dr. Knabe, gerät der „deutsche Aufstand“, wie Sie ihn nennen, vom 17. Juni 1953 in Vergessenheit?
Hubertus Knabe: Ich fürchte, ja. Dieser 70. Jahrestag war wahrscheinlich das letzte Mal, daß sich Medien und Politik mit den Ereignissen breiter befaßt haben. Vielleicht findet der 75. Jahrestag noch einmal größere Aufmerksamkeit, aber das Unwissen nimmt von Jahr zu Jahr zu.
Zum 75ten dürften die meisten Zeitzeugen tot sein.
Knabe: Das ist leider jetzt schon ein Problem.
In der Neuausgabe Ihres Buchs schreiben Sie, „erst 2003 erinnerten sich viele plötzlich wieder der dramatischen Ereignisse“. War der Grund nur der 50. Jahrestag oder steckte dahinter vielleicht mehr?
Knabe: Der 50. Jahrestag fand in der Tat große Aufmerksamkeit – die jedoch genauso plötzlich endete, wie sie begann. Viele Journalisten entdeckten damals die Geschichte ihres eigenen Landes neu. Im Westen hatte das Gedenken an den Aufstand zunehmend als eine Art „Relikt des Kalten Krieges“ gegolten. Im Osten war er jahrzehntelang verschwiegen oder als „faschistischer Putschversuch“ verteufelt worden. Nach der Friedlichen Revolution 1989 erschien er vielen dann auf einmal als deren früher Vorläufer.
Die Deutschen haben damals den 17. Juni „neu entdeckt“?
Knabe: Zweifellos. Die breite Berichterstattung war vermutlich auch eine Gegenbewegung zur „Ostalgie“-Welle, die die Medien davor beherrschte.
Mit „Tage des Sturms“ gab es erstmals sogar einen Spielfilm zum Thema, mit Starbesetzung und einem Drehbuch aus der Feder des Schriftstellers Erich Loest.
Knabe: Besser war allerdings der Film „Zwei Tage Hoffnung“. Selbst Erich Loest kritisierte, was der MDR aus seinem Drehbuch gemacht hatte. Aber diese Fernsehfilme trugen natürlich erheblich dazu bei, daß der Aufstand plötzlich in aller Munde war.
Aber daß er bald danach wieder vergessen war, deutet doch auf ein mediales Strohfeuer hin.
Knabe: Leider ja. Während etwa in Ungarn bis heute die allermeisten den Volksaufstand von 1956 kennen dürften, weiß ein großer Teil der Deutschen nicht mehr, was 1953 in der DDR geschah – vor allem in der jüngeren Generation.
Warum ist das so?
Knabe: In einer brutalen Diktatur für freie Wahlen auf die Straße zu gehen, ist etwas ganz Besonderes. Der 17. Juni gehört deshalb in die Reihe der großen demokratischen Erhebungen in Deutschland. Als er 2003 wiederentdeckt wurde, nahm auch das Wissen darüber plötzlich rapide zu. Der Anteil derjenigen, die wußten, was am 17. Juni geschah, stieg binnen weniger Wochen von 52 auf 68 Prozent, bei den unter Dreißigjährigen sogar von 20 auf 50 Prozent.
„Kaum war der Jahrestag vorbei, senkte sich erneut der Mantel des Schweigens“, schreiben Sie in Ihrem Buch „17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand“.
Knabe: Genau – und das, obwohl nach 2003 noch viele neue Erkenntnisse hinzukamen.
Zum Beispiel?
Knabe: Zum Beispiel wurde die Behauptung der SED widerlegt, westdeutsche Geheimdienste hätten den Aufstand initiiert. In Wirklichkeit war die „Organisation Gehlen“, der Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes, genauso überrascht wie die SED. Sie verdächtigte sogar die Sowjets, dahinterzustecken. Auch die Regionalforschung zum 17. Juni erlebte 2003 einen Schub. Doch dies stieß auf kein besonderes Interesse mehr. Bereits 2005 hielten ein Drittel der deutschen Schüler den Volksaufstand für einen „antisozialistischen Putschversuch“.
Und zum 60. Jahrestag?
Knabe: 2013 gab es nochmal eine hochrangig besetzte Gedenkveranstaltung in Berlin. Das war aber auch schon alles. Danach setzte wieder das große Schweigen ein.
Hat Sie das überrascht?
Knabe: Ehrlich gesagt, nein. Was mich überraschte, war eher das enorme Interesse 2003. Denn es stand im Gegensatz zur Gleichgültigkeit, das in Deutschland sonst gegenüber dem Widerstand und der Verfolgung in der DDR zu beobachten ist.
Wurde darüber nach dem Ende der DDR nicht immer wieder berichtet?
Knabe: Der Zusammenbruch der SED-Diktatur 1989 löste in der Tat eine breite Berichterstattung über die kommunistischen Verbrechen aus – nach jahrelanger Schönfärberei zuvor. Bald wurde diese aber von Berichten überlagert, daß die Ostdeutschen angeblich vor allem unter den Folgen der Wiedervereinigung litten. Die Bundesregierung will dazu jetzt in Halle sogar ein riesiges Zentrum bauen.
Die Politik beteuert doch bei jeder Gelegenheit, demokratische Lehren aus der Geschichte gezogen zu haben.
Knabe: Davon merkt man leider wenig. Viele Politiker interessieren sich einfach nicht für die DDR. An Gedenktagen gibt es ein paar Schaufensterreden, aber das war’s. Der aktuelle Antrag der Ampel-Regierung ist ein Beispiel dafür: Irgendwelche Maßnahmen, wie man die Erinnerung an den 17. Juni wieder stärken könnte, finden sich nicht darin.
Sie schreiben, der 17. Juni hätte „eine elementare Kraft, die fasziniert“. Worin liegt diese?
Knabe: Geschichte betrachten wir meist vom Ende her. So sehen wir im 17. Juni vor allem das Scheitern. Erzählt man Geschichte aber von ihrem Anfang her – also so, wie sie die Zeitgenossen erlebt haben –, dann war der Aufstand ein großer Tag der Befreiung. Das SED-Regime brach wie ein Kartenhaus zusammen. Die Parteispitze mußte ins sowjetische Hauptquartier evakuiert werden, der DDR-Regierungssitz wurde gestürmt. In zahlreichen Städten wurden die Parteizentralen besetzt, vielerorts auch Gefängnisse, Polizeireviere und Stasi-Dienststellen. Hätten nicht sowjetische Panzer und Soldaten interveniert, wäre die SED-Diktatur schon 1953 zu Ende gewesen.
Aber in Berlin kam die Niederlage schon nach wenigen Stunden.
Knabe: Berlin war eher ein Ausnahmefall. Weil der Potsdamer Platz im Sichtfeld westlicher Journalisten lag, wird der Aufstand bis heute vor allem mit Bildern von dort identifiziert. Das verzerrt den Blick, denn in Berlin rollten sowjetische Panzer schon zwischen 10 und 11 Uhr in die Innenstadt. Um 12 Uhr eroberten die Sowjets den Regierungssitz zurück, danach räumten sie den Potsdamer Platz, wo es um 12.40 Uhr den ersten Toten gab. Um 13 Uhr wurde schließlich der Ausnahmezustand verhängt. In anderen Städten jedoch zog sich der Aufstand viel länger hin. In Halle fand noch um 18 Uhr eine große Kundgebung statt, erst danach griffen sowjetische Truppen ein. In Görlitz war es ähnlich. Die Erhebung konnte sich deshalb dort viel weiter entwickeln. Die Aufständischen übernahmen das Rathaus, setzten den Bürgermeister ab und erteilten erste Anweisungen. Innerhalb von Stunden erreichten sie das, wofür die Bürgerbewegungen 1989 Monate brauchte: die Entmachtung der SED.
Um so mehr stellt sich die Frage, warum ein solch wuchtiges Ereignis aus historischer Identität und kollektivem Bewußtsein der Deutschen verschwunden ist?
Knabe: In der DDR war der 17. Juni 36 Jahre lang extrem tabuisiert. Selbst die Bürgerrechtler der achtziger Jahre wollten nichts damit zu tun haben. Im Westen wurde der Tag zwar – auf Initiative der SPD – noch 1953 zum einzigen bundesgesetzlichen Feiertag erklärt. Doch bereits Ende der sechziger Jahre wollte man ihn wieder abschaffen, und seit 1968 gab es keine Gedenkstunde im Bundestag mehr. Als sich Bundeskanzler Willy Brandt dann 1970 mit dem DDR-Ministerratsvorsitzenden Willi Stoph in Erfurt traf, sprach niemand mehr davon, daß Stoph, 1953 Innenminister, für die Verhaftung Tausender Aufständischer verantwortlich gewesen war. Helmut Kohl führte die Gedenkstunde 1983 zwar wieder ein, doch die Grünen boykottierten sie. Woher sollte also das Bewußtsein kommen!
Der 17. Juni verkam bekanntlich zum Badetag – oft wird angeführt, weil die Westdeutschen nicht Teilnehmer, sondern nur Zaungäste waren.
Knabe: In den fünfziger und frühen sechziger Jahren gab es im Westen noch eine große Anteilnahme an den Geschehnissen. 1963 erhob der Bundespräsident den Feiertag zusätzlich zum „Nationalen Gedenktag des deutschen Volkes“. Doch der Linksruck infolge der Studentenbewegung veränderte auch die Einstellung zur DDR. Hatten sich Studenten der Freien Universität Berlin zuvor als Fluchthelfer engagiert, demonstrierten sie jetzt mit Bildern von Marx, Mao Tsê-tung und Ho Chí Minh.
Nach wie vor ist der 17. Juni offiziell „Nationaler Gedenktag des deutschen Volkes“ – was aber quasi kein Deutscher mehr weiß.
Knabe: Weil er im Alltag keine Rolle spielt. Als der Feiertag 1990 abgeschafft wurde, gab es weder im Westen noch im Osten Protest dagegen. Es war ja auch irgendwie seltsam gewesen, einen Aufstand gegen Walter Ulbricht, Willi Stoph und Erich Honecker zu feiern, mit denen man zur selben Zeit freundschaftliche Bande knüpfte.
Die Entspannungspolitik erklärt, warum die Politik, nicht aber, warum das Volk sich nicht mehr mit dem 17. Juni identifizierte.
Knabe: „Das Volk“ ist vielleicht etwas hochgegriffen, treffender ist wohl: die meinungsbildenden Eliten. Dafür gab es verschiedene Gründe: Die verstärkte Aufarbeitung des Nationalsozialismus ließ die DDR vielen irgendwie harmlos erscheinen. Einflußreiche Intellektuelle erklärten, die Teilung Deutschlands sei die Strafe für Krieg und Holocaust. Die Renaissance des Marxismus schuf eine gewisse ideologische Verbundenheit mit den DDR-Machthabern. Olaf Scholz zum Beispiel fühlte sich als Vizechef der Jusos deutlich mehr zu diesen Leuten hingezogen als zur Nato und zu den USA – obwohl diese damals auch seine Freiheit sicherten.
Welche Rolle spielte dabei, daß der 17. Juni auch ein – vielleicht mißliebiger – nationaler Aufstand war, für die Einheit und Freiheit Deutschlands?
Knabe: Das gebrochene Verhältnis zur eigenen Nation spielte sicher eine Rolle, warum viele 68er von dem Aufstand in der DDR nichts wissen wollten. In den Forderungskatalogen vom 17. Juni findet sich die Wiedervereinigung allerdings nur vereinzelt.
Aber Zeitzeugen berichten einhellig von Rufen nach der deutschen Einheit, sogar nach Abschaffung der Oder-Neiße-Grenze und vom Singen des Deutschlandliedes. In Berlin zog man mit schwarzrotgoldenen Flaggen durchs Brandenburger Tor, von dem die rote Fahne heruntergerissen und durch die deutsche ersetzt wurde.
Knabe: Das war aber nicht unbedingt ein Ausweis nationaler Gesinnung. Denn die DDR und die Bundesrepublik verwendeten damals noch ein und dieselbe Fahne. Das Staatswappen der DDR mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz kam erst 1959 dazu. Nach vier Jahren Teilung war es allerdings naheliegend, daß freie Wahlen bald wieder zu einem einheitlichen Staat führen würden.
Eben, für die Aufständischen war die deutsche Einheit selbstverständlich und „logische“ Folge ihrer politischen Forderungen – womit das Nationale doch ein Kernelement des 17. Juni war.
Knabe: Nicht unbedingt. Die Wiederherstellung der deutschen Einheit forderten damals fast alle politischen Kräfte, auch und gerade die SED. Die Frage war, unter welchen Bedingungen. Die Sowjets wollten erst eine gesamtdeutsche Regierung bilden und dann Wahlen durchführen, die West-Alliierten bestanden auf der umgekehrten Reihenfolge. Ohne die Zustimmung der vier Alliierten war eine Wiedervereinigung jedoch undenkbar, denn Deutschland war ein besetztes Land. Tatsache ist: Der Aufstand begann mit sozialen Forderungen, nämlich der Rücknahme der Arbeitsnormenerhöhung. Daraus entstanden bald politische Forderungen, vor allem Rücktritt der Regierung, Freilassung der politischen Gefangenen und freie Wahlen. Die anderen Punkte, die Sie genannt haben, wurden nur punktuell flächendeckend erhoben. So richtete sich der Zorn der Demonstranten in Berlin gegen die Kontrollstellen, die die DDR an der Sektorengrenze aufgebaut hatte. In Görlitz forderte man, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zurückzunehmen, weil die Stadt seitdem in einen deutschen und eine polnischen Teil geteilt war. In grenznahen Gebieten ging es um die Öffnung der seit 1952 verschlossenen innerdeutschen Grenze. Daraus, wie in der Bundesrepublik geschehen, einen „Tag der deutschen Einheit“ zu machen, verschiebt im nachhinein etwas die Akzente.
Der 17. Juni-Teilnehmer Wolfgang Liebehenschel sagte jüngst im Interview mit dieser Zeitung, er sehe heute „wiederkehren, wogegen wir uns damals erhoben haben ... den Zug, dem Volk vorzuschreiben, was es zu denken hat und jene, die nicht mitziehen, auszugrenzen“. Hat er recht?
Knabe: Teils, teils. Die Situation ist heute eine grundsätzlich andere. Wir leben nicht in einer Diktatur, wo man für einen Witz ins Gefängnis kommt. Aber die Ausgrenzung abweichender Meinungen hat zugenommen. Darüber wird bei meinen Veranstaltungen besonders im Osten geklagt. Auch die Ideologisierung von Politik erinnert dort viele an früher. Die Methode, Kritik als rechtsradikal zu stigmatisieren, kommt vielen ebenfalls bekannt vor. Auch die SED bezeichnete den Aufstand jahrzehntelang als „faschistischen Putschversuch“. In Ostdeutschland reagiert man auf solche Tendenzen sensibler als im Westen.
Sie gelten als einer der profiliertesten Experten für die DDR-Diktatur. Wie bewerten Sie die Entwicklung?
Knabe: Ich würde sagen, wir haben aus der Geschichte wenig gelernt – obwohl wir gerne das Gegenteil behaupten.
Dr. Hubertus Knabe, war Mitgründer und von 2000 bis 2018 Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen zur Erinnerung an die SED-Verbrechen. Heute lehrt der 1959 im westfälischen Unna geborene Historiker als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Würzburg. Er schreibt als Gastautor für diverse Blätter wie NZZ, FAZ, Welt, Focus oder Cicero und ist Autor zahlreicher Bücher, darunter „Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der DDR“ (2007), „Honeckers Erben. Die Wahrheit über die Linke“ (2010), „Nazis in der DDR. Die Legende vom antifaschistischen Staat“ (2020). Seine als „große, packende Erzählung“ (FAZ) und „Standardwerk“ (Tagesspiegel) gelobte Studie „17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand“ (2003) ist nun in aktualisierter Neuauflage wiedererschienen.