© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/23 / 23. Juni 2023

In Wünsche geflüchtet
Die erste Nationale Sicherheitsstrategie weist zahlreiche Schwächen auf
Martin Wagener

Was in den USA seit Jahrzehnten von jeder Administration erstellt wird, hat nun auch in Deutschland Einzug gehalten. Der 14. Juni 2023 geht als Geburtsstunde der ersten deutschen Nationalen Sicherheitsstrategie in die Geschichte der Bundesrepublik ein. Dieser Schritt war überfällig, nachdem sich Bundeskanzlerin Angela Merkel stets geweigert hatte, ein solches Dokument zu erstellen. Sie wollte Festlegungen vermeiden. Zuletzt hatte sich die Bundesregierung im Verteidigungsweißbuch von 2016 in grundsätzlicher Form zu strategischen Fragen geäußert. Nun liegt ein 76 Seiten umfassendes Papier vor, das aus der Titel-Perspektive „Integrierte Sicherheit“ argumentiert.

Einiges ist durchaus gelungen. Es gibt zumindest ein Bemühen darum, nationale Interessen zu reflektieren. Erstaunlich gut ist die Abhängigkeit Deutschlands von Rohstoffen herausgearbeitet worden. Die Konsequenzen werden benannt: Es geht um neue Marktzugänge, sichere Lieferketten und den Aufbau von Reserven. Der Schutz der kritischen Infrastruktur wird hervorgehoben. Die Bundesregierung betont zudem völlig zu Recht, nach außen nur dann stark auftreten zu können, wenn das Land im Innern „resilient“ ist. Ferner soll die Bundeswehr gestärkt werden, Landes- und Bündnisverteidigung stehen im Vordergrund. Die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie und dem Ukrainekrieg wirken an mehreren Stellen deutlich nach.

Dem schließen sich dann allerdings Passagen an, die zu großen Teilen an eine verkorkste Bachelor-Arbeit erinnern. So liegt der Nationalen Sicherheitsstrategie ein „breite[r] Sicherheitsbegriff“ (Olaf Scholz, erstes Vorwort) zugrunde. Das ist nicht falsch, die Politikwissenschaft kennt gleichermaßen Sicherheit im engen und weiten Sinne. Problematisch ist, daß zu breit und nicht ausgewogen angesetzt wird. Aus der Sicht von Annalena Baerbock bedeutet Sicherheit zum Beispiel auch, daß „unsere Smartphones funktionieren“ (zweites Vorwort). Der Kampf gegen den Rechtsextremismus fehlt ebenfalls nicht. Und auf dem neuen Steckenpferd der Außenministerin wird von Kapitel zu Kapitel geritten: Nichts geht mehr ohne die „feministisch[e] Außen- und Entwicklungspolitik“. Die Autoren überdehnen den breiten Sicherheitsbegriff letztlich so lange, bis er nichts mehr aussagt. Abgesehen von einem banalen Rest: Alles hängt irgendwie miteinander zusammen, die Wunschliste ist lang.

Sinnvoller wäre es gewesen, einen engen Sicherheitsbegriff zu verwenden und darauf aufzubauen: Welche militärischen Entwicklungen sind geeignet, die nationalen Interessen Deutschlands zu bedrohen? Ausführungen zu diesem Thema fallen viel zu knapp aus, obwohl sie eigentlich den Wesenskern einer Sicherheitsstrategie ausmachen. Ein weiteres Defizit: Was folgt aus der sich wandelnden Machtkonstellation in Asien für die Bundesrepublik? Staaten wie Indien, Japan, Südkorea und Taiwan werden nicht ein einziges Mal namentlich erwähnt. Die Konflikte im Ost- und Südchinesischen Meer oder die Lage in Kaschmir sind ausgeblendet worden. Auch die Situation am Persischen Golf spielt keine große Rolle, das Wort „Saudi-Arabien“ ist nirgendwo zu lesen. So bleibt es bei den Hinweisen, daß Rußland die „größte Bedrohung“ darstelle und China ein „systemischer Rivale“ sei. Erklärungen halten sich erneut in engen Grenzen.

Um Sicherheit zu schaffen, setzt die Bundesregierung auf die „regelbasierte internationale Ordnung“. Was passiert, wenn diese Ausfallerscheinungen zeigt, wird nicht erörtert. Staatliche Einflußsphären werden abgelehnt, was in der Gesinnung edel erscheinen mag, aber nichts mit der Realität zu tun hat. Genauso wie dieser Satz: „Unser Ziel bleibt eine sichere Welt ohne Atomwaffen.“ Tatsächlich ist es bislang vor allem deshalb nicht zum Dritten Weltkrieg gekommen, weil die nukleare Abschreckung funktioniert hat. Vieles mäandert im Abstrusen: „Die kommenden geopolitischen Auseinandersetzungen werden sich […] zusehends auch auf der gesellschaftlichen Ebene [abspielen].“ Da ist der Begriff „Geopolitik“ nicht richtig verstanden worden.

Diese terminologische Schwäche ist desgleichen bei den „nationalen Interessen“ zu beobachten. Lediglich drei der aufgezählten neun Punkte werden aus der Perspektive des Schutzes bzw. der Nutzenmehrung formuliert. Beim Rest handelt es sich um Kategorienfehler. Die Autoren erklären, wie sich Ziele umsetzen lassen, etwa durch die Europäische Union, die Nato oder das Völkerrecht. Dabei halten sie staatliche Instrumente für „Interessen“.

Daß die Nationale Sicherheitsstrategie letztlich mißglückt ist, kann auf drei Ursachen zurückgeführt werden. Deutschen Entscheidungsträgern fällt es, erstens, schwer, die Gesetze der Staatenwelt zu verstehen. Sie flüchten sich in Wunschwelten und formulieren dann entsprechend; Machtverschiebungen finden in diesem Prozeß kaum Beachtung. Statt nationale Interessen wirklich in den Mittelpunkt aller Überlegungen zu stellen, werden Wertefragen überbetont – ganz im Sinn der Weltrettungsmission, auf der sich Vertreter der „Ampel“ täglich wähnen.

Zweitens ist eine falsche Schwerpunktsetzung vorgenommen worden. Das Klima-Thema dominiert, der Begriff taucht 71mal auf – das Wort „Militär“ fällt hingegen nur 29mal. Was eine Nationale Sicherheitsstrategie ausmacht, insbesondere nach internationalen Maßstäben, ist in Berlin noch nicht ganz angekommen.

​​Schließlich ist, drittens, öffentlich bekanntgeworden, daß die Federführung bei der Anfertigung des Dokuments dem Auswärtigen Amt oblag. So ist ein grüner Kessel Buntes zusammengemixt worden, der viele Befindlichkeiten widerspiegelt, aber keine kohärente Strategie abbildet. Es spricht zudem Bände, daß Deutschland nur deshalb keinen Nationalen Sicherheitsrat hat, weil sich Scholz und Baerbock nicht über die Zuständigkeit einigen konnten. Auch das zeigt: Es geht nicht immer zuvörderst um die Sicherheit des Landes.






Martin Wagener ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Politik und Sicherheitspolitik an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung.