Was passierte nach der Abschaltung der letzten drei AKW am 15. April im deutschen Stromnetz? „Die Auswirkungen sind extrem gering“, behauptete Barbie Kornelia Haller (FDP), seit 2022 Vizepräsidentin der Bonner Bundesnetzagentur, im Bayerischen Rundfunk. Denn „die Erneuerbaren speisen jetzt im Frühjahr deutlich mehr ein als im Winter“, so die Volkswirtin und Ehefrau des 2022 abgewählten Ex-NRW-Landesministers Joachim Stamp (FDP). Doch Thomas Dietz, seit 2021 direkt gewählter AfD-Bundestagsabgeordneter des uranreichen Erzgebirgskreises, wollte es genauer wissen: Wie entwickelte sich der Stromimport und -export im Vergleich zum Vorjahreszeitraum?
Unverzichtbar für Heizung und Prozeßwärme in der Industrie
Ein Grünen-Politiker gab die ernüchternde Antwort: „Im Zeitraum vom 15. April bis 15. Mai 2023 exportierte Deutschland Strom im Umfang von 3,51 Terawattstunden (TWh) und importierte Strom im Umfang von 6,27 TWh. Im Vorjahreszeitraum betrugen die Stromexporte 5,79 TWh und die Stromimporte 4,94 TWh“, erklärte Wirtschaftsstaatssekretär Sven Giegold (Drucksache 20/6994). Sprich: Seit dem Atomausstieg waren 2,76 TWh ausländischer Atom-, Kohle-, Wind- und Wasserkraftstrom nötig, um einen Blackout zu verhindern. Die AKW Emsland, Isar 2, und Neckarwestheim 2 speisten bis 15. April monatlich bis zu drei Terawattstunden gesicherte Leistung ins Netz ein – egal, ob der Wind wehte oder die Sonne schien.
Die deutsche Stromlücke wird – nicht nur wegen der Wärmepumpen und der E-Autos – anwachsen, denn im Ampel-Koalitionsvertrag heißt es: „Schritt für Schritt beenden wir das fossile Zeitalter, indem wir den Kohleausstieg idealerweise auf 2030 vorziehen.“ Doch um die verbleibende „Brückentechnologie“ bis zur „Netto-Treibhausgasneutralität“ 2045 (Forderung des Bundes-Klimaschutzgesetzes von 2019) steht es schlecht: „Erdgas ist für Deutschland in den letzten drei Dekaden immer wichtiger geworden, sei es für das Heizen von Gebäuden, die Bereitstellung von Prozeßwärme in der Industrie oder die Stromerzeugung“, heißt es in einer aktuellen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW-Policy Paper 5/23). Aber bis 2021 kamen 55 Prozent der Erdgasimporte aus Rußland – doch das ist mit dem Nordstream-Terroranschlag vorbei.
Zusätzliche Importe aus Norwegen und den Niederlanden können den Lieferausfall nicht ersetzen. Deswegen sei auch 2023 eine „Reduktion des Verbrauchs“ nötig. Die Internationale Energieagentur (IEA) schätze, daß „nur ein Viertel der Gaseinsparungen im Gebäudebereich in der EU im vergangenen Jahr auf verhaltensbedingte Reduktionen zurückzuführen war, fast zwei Drittel dagegen auf die milde Witterung und etwa zehn Prozent auf Effizienzmaßnahmen“, so das IW. Und wie reagierte die Industrie? Vor allem mit Produktionseinschränkungen (52 Prozent) und „fuel-switch“ (Wechsel hin zu Kohle und Öl; 28 Prozent). Der Anteil von Flüssigerdgas (LNG) an der EU-Gasversorgung sei zwar 2022 von 20 auf 35 Prozent gestiegen – doch die Schiffsladungen aus Algerien, Katar oder den USA sind teurer als „Putin-Gas“.
Das liegt nicht nur am Schiffstransport, dem Energieaufwand bei Verflüssigung, Kühlung und der Regasifizierung sowie den zu bauenden LNG-Terminals an der Nord- und Ostseeküste: LNG „war im Durchschnitt der Jahre 2017 bis 2021 etwa 30 Prozent teurer als europäisches Pipelinegas“, konstatiert das IW. Und im Kriegsjahr 2022 war der durchschnittliche LNG-Preis in der EU in der Spitze mit 240 Dollar pro Megawattstunde (MWh) zehnmal so hoch wie 2021. Im März 2023 waren es mit 50 Dollar zwar weniger als in Japan (60 Dollar) – doch in den USA waren es unter zehn Dollar. Wie teuer die deutschen LNG-Importe konkret waren – sie kamen über Pipelines aus Belgien und den Niederlanden an – verrät das IW nicht.
Rückkehr zu den Vorkrisenpreisen oder Industrieabwanderung
LNG könne „wie Erdöl oder Strom langfristig über feste Lieferverträge mit einer Dauer von zehn bis 20 Jahren oder kurzfristig als Spotmarktmengen gehandelt werden“. Deutschland als „Neukunde“ mußte auf die verfügbaren globalen Spotmengen zugreifen – koste es, was es wolle. Das IW mahnt daher: „Grundsätzlich sind längerfristige LNG-Verträge vor dem Hintergrund der angespannten Gasversorgung für Deutschland unabdingbar.“ Auch „ein stärkerer gemeinsamer LNG-Einkauf durch die EU“ sei möglich. Ob das Erdgas dann über Drittländer – wie beim Heizöl- und Dieselimport aus Indien – letzlich doch auch aus Rußland kommt, thematisiert das IW nicht. Und dessen Prognose ist düster: „Trotz einer Entspannung der Gasversorgung ist daher nicht mit einer Rückkehr zu Vorkrisenpreisen zu rechnen.“
Zu den realistischen Alternativen äußert sich das IW ausweichend: Ob Atom- oder Kohlekraftwerke weiterbetrieben werden, sei „vor allem eine politisch-gesellschaftliche Entscheidung, deren zeitliche Notwendigkeit maßgeblich durch die Geschwindigkeit des Ausbaus erneuerbarer Energien bestimmt wird“. Zentrale Alternativen zu Erdgas seien „erneuerbarer Strom und klimaneutraler Wasserstoff“. Doch „der Blick auf die aktuell weltweit geplanten Elektrolyseprojekte legt nahe, daß grüner Wasserstoff in den kommenden Jahren ein knappes Gut bleiben wird“. Und das bedeutet: Industrieabwanderung dank Atom- und Kohleaustieg sowie Gasverteuerung, was das IW aber verschweigt.
„Zukunft Erdgas: Was brauchen wir noch und was kommt dann?“ (IW-Policy Paper 5/23): www.iwkoeln.de