© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/23 / 16. Juni 2023

Schrecklich und müde
Der Germanist Uwe Neumahr bereitet die Geschichte der Berichterstatter und Prozeßbeobachter auf, die sich 1946 am Rande des alliierten Kriegsverbrecherprozesses tummelten
Eberhard Straub

The Nuremberg Show“ lautete am 10. Dezember 1945 die Überschrift im Magazin Newsweek zu einem Artikel über den Prozeß gegen die Reichsregierung und führende Generalstabsoffiziere. Dieses Verfahren sollte veranschaulichen, daß nicht die Rache, sondern das Recht das letzte Wort habe. Die Sieger wollten als Rechthaber Richter sein, denn sie beanspruchten, im Recht zu sein, und deshalb jeden strafen zu müssen, der das Recht schlechthin bewußt mißachtete, ein Recht, das als Wert überzeitlich sei, wie das Gute, die Menschenwürde und alles Edle, was sich aus diesen Voraussetzungen ergebe. Das Verfahren sollte ein Lehrprozeß für die Deutschen vor allem, aber auch für die Menschheit sein, die insgesamt noch nicht die sittliche Höhe der vier Siegermächte erreicht habe und unter dem Eindruck dieses Gerichtes von nun an nur Interessen verfolgen sollte, die rechtmäßig sind. Es sollte keine Politik mehr geben, nur noch Recht und Rechtswahrung vor der Bösartigkeit der Ungerechten und Rechtsbrecher.

Der Schritt vom Erhabenen zum Trivialen ist oftmals nur ein geringer. Das bestätigt Uwe Neumahr mit seinem Buch „Das Schloß der Schriftsteller“, einer kleinen Geschichte des Ortes, an dem sich vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 die Journalisten in der Nähe Nürnbergs drängten, die den Prozeß ganz zeitgemäß zum Medienereignis erheben sollten. Es handelt sich weniger um ein Schloß der Schriftsteller, als um das der Grafen von Faber Castell in Stein, die reich geworden waren mit Bleistiften und Schreibwaren. Zeitweise fielen sich in dem großzügigen Bau im historistischen Stil der Jahrhundertwende über 200 „Kriegsberichterstatter“, wie sie immer noch hießen, auf die Nerven. Für so viele Besucher war das weiträumige und pompöse Schloß nicht geplant. 

Viel Menschliches und Allzumenschliches beschäftigte die internationalen und eitlen Berühmtheiten, die in keinen Einzelzimmern wohnen konnten, die Arbeitsbedingung unbequem, ja unerträglich fanden, über die provinzielle Küche klagten und über manche Unbequemlichkeiten, die einen auch erotisch lebhaften Austausch erschwerten. Wie ganz anders war alles ein Jahr zuvor im befreiten Paris! Das Stöhnen über die deutschen Schrecklichkeiten – ganz unabhängig vom Prozeß – veranlaßte viele Beobachter, den Aufenthalt nicht allzu lang auszudehnen. Uwe Neumahr erinnert immer wieder daran, daß der Prozeß seine Beobachter – darunter so prominente wie Erika Mann, Erich Kästner, Willy Brandt oder Markus Wolf – verändert habe, die ihm beiwohnten und im emotionalen Stau standen, weil sie über Unsagbares sprechen sollten, was ihre hohe Sprachkunst und ihr dramatisches Vermögen herausforderte. Doch vorzugsweise berichtet er über die Nervosität und Unleidlichkeit von Konkurrenten bei der Jagd nach exklusiven Geschichten, möglichst nach Sensationen, die in den Redaktionen erwartet wurden.

Der Prozeß zog sich freilich in die Länge, weil die Anklage und Verteidigung unvermeidlich ihre Materialien ausführlich ausbreiteten. Diese Umständlichkeit führte schnell zu Ermüdungserscheinungen bei der moralischen Empörung, auf die ein Artikel als gelungenes Drama angewiesen ist. Auch Sprachvirtuosen wie Rebecca West, Janet Flanner oder Martha Gellhorn gerieten bald in Verlegenheit bei der Suche nach Worten, um das Schockierende drastisch zu verlebendigen. Von ihnen war ohnehin seit dem Ersten Weltkrieg unter ihren Lesern in den USA oder England bekannt, daß sie den „Krauts“ jede Barbarei zutrauten, weil diese nun einmal nicht zivilisiert und humanisiert werden könnten, wie die Geschichte beweise. Was die Ankläger vortrugen, konnte sie nicht sonderlich überraschen und ihre Ausdrucksfreude um neue Nuancen bereichern. Nicht nur sie, sondern viele der Reporter, die Spannung brauchten, um den Leser angemessen zu unterhalten und mit Abscheu, Empörung und Trauer zu erfüllen, mußten ausschmücken, erfinden, um das Medienereignis eindrucksvoll, schauerlich und unvergeßlich zu machen. Das Schloß bot den „Rahmen für die Engführung von Zeitgeschichte, Literaturgeschichte und persönlichen Schicksalen“, was meint Liebesfreud und Liebesleid. 

Flüchtigste Mitspieler im großen Welttheater 

Da man sich nicht aus dem Wege gegen konnte im zerstörten Nürnberg und im unversehrten Grand Hotel wegen Überfüllung auch nicht allzuviel Platz für komfortable Parties geboten wurde, erholte man sich im Schloß bei Schnaps und Schampus und schwang das Tanzbein. Der Prozeß war nicht so sehr der „Hauptprotagonist und Regisseur“, sondern die Langeweile und der Verdruß, der jeder nach seinen literarischen Verpflichtungen entfliehen wollte. Mit viel Liebe zum Detail schildert Uwe Neumahr diese allzu menschliche Komödie, unvermeidlich, wenn viele genötigt sind, es miteinander auszuhalten und dabei dauernd von den anderen abhängig sind, die ebenfalls das Beste aus den mißlichen Umständen machen müssen, um bei guter Laune zu bleiben oder gar in ein Abenteuer gezogen zu werden, das es endlich auch dem bravsten Juristen erlaubte, vorübergehend ein toller Kerl zu sein. 

Der Historiker dieser kleinen Geschichten weist immer wieder auf die hohen Ziele des Prozesses hin und spricht beredt von der hohen Verantwortung, die auch auf dem flüchtigsten Mitspieler in diesem großen Welttheater lastete und seinen Stil prägte, aber er verzichtet darauf, seinen Akteuren vorzuwerfen, daß sie sich nach des Tages Mühe einen Jux machen wollten. Den Nürnbergern war deren Treiben ohnehin vollkommen gleichgültig. Sie waren in den Trümmern mit sich selbst beschäftigt und achteten nicht weiter auf das doch auch für sie inszenierte Schauspiel, das eine tragische Reinigung in ihren Seelen und die Bereitschaft zur Reue und Besserung bewirken sollte. Darin äußerte sich nicht eine Unfähigkeit zur Trauer, wie der Autor mit Alexander Mitscherlich vermuten möchte. Irgendwann übersteigt der Schrecken das Fassungsvermögen, und der Mensch kümmert sich um das Nächstliegende, das sein unmittelbares Dasein beschwert, ohne daß ihm dabei Schnaps und Bier einen kleinen Trost spenden.,

Uwe Neumahr: Das Schloß der Schriftsteller. Nürnberg ‘46. Treffen am Abgrund. Verlag C.H. Beck, München 2023, gebunden, 304 Seiten, 26 Euro