Die Forderungen des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 beinhalteten in erster Linie die Rücknahme von willkürlichen Normerhöhungen in der Industrie, den Rücktritt beziehungsweise die Absetzung der DDR-Regierung sowie freie Wahlen. Die Nichtanerkennung der seit 1950 zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen im Görlitzer Vertrag vereinbarten Oder-Neiße-Grenze läßt sich zwar regional und zudem relativ stark in der von Vertriebenen überfüllten Oberlausitz nachweisen, scheint jedoch nicht zu den Hauptforderungen des 17. Juni in der DDR gehört zu haben.
Auf dem damaligen Leninplatz (heute Obermarkt) in Görlitz fanden sich allerdings am 17. Juni 1953 Tausende von Demonstranten zu einer Kundgebung zusammen. Hierbei ergriff der Görlitzer Lok-Schlosser Hermann Gierich das Wort und forderte: „Wann wird die Oder-Neiße-Grenze aufgehoben ? Wann wird die Kasernierte Volkspolizei aufgelöst? Wann tritt die Regierung zurück? Wann finden freie Wahlen statt? Wann werden die HO-Preise beseitigt ?“ Die Kundgebung in Görlitz schloß bezeichnenderweise mit dem gemeinsamen Absingen des Deutschlandliedes.
Daß gerade in der Oberlausitz das Problem der Oder-Neiße-Grenze hochkochte, ist nicht verwunderlich. Die Oberlausitz war dicht mit „Umsiedlern“, vor allem mit Schlesiern, vollgestopft. Die Stadt Görlitz, heute 55.000 Einwohner, hatte damals sehr beachtliche 104.000 Bewohner, war somit mit 3.852 Einwohnern pro Quadratkilometer die dichtbesiedeltste Stadt Sachsens, eine extrem hohe Bevölkerungsdichte, welche an südafrikanische Townships erinnert. Der Großteil der Vertriebenen in Görlitz stammte zudem aus dem Ostteil von Görlitz jenseits der Neiße. Die Stadt gehörte bis 1945 zur preußischen Provinz Schlesien und war mit den westlich der Neiße verbliebenen Kreisen bis zur DDR-Bezirksverwaltungsreform 1952 dem Land Sachsen zugeschlagen. Viele nun in der Stadt lebenden vertriebenen Görlitzer konnten täglich über die Neiße ihre vormaligen Wohnhäuser sehen, welche kaum bewohnt waren und allmählich verfielen.
Die Grenze an der Neiße war damals ähnlich der DDR-Westgrenze von der Grenzpolizei streng bewacht, und man versuchte ängstlich, die Deutschen von den Polen getrennt zu halten. Das bedingte die Anwesenheit starker Grenzpolizeieinheiten, welche nach mehreren Stunden der Lähmung ab dem Abend des 17. Juni recht schnell den Volksaufstand in der Oberlausitz niederwarfen, während sich sowjetische Truppen in der Oberlausitz zurückhaltend verhielten. Gerade in der Oberlausitz regte sich am 17. Juni immer wieder neben den Forderungen nach Rücktritt der Regierung, nach Abschaffung der Normerhöhungen und nach besserer Lebensmittelversorgung der Ruf nach einer Revision der Oder-Neiße-Grenze. Durch den Volksaufstand keimte nämlich bei vielen Vertriebenen sofort die Hoffnung nach der Rückkehr in die alte Heimat auf. Bereits zu Mittag des 17. Juni drängten Tausende Görlitzer zu einer spontanen Kundgebung in die Innenstadt. Es ertönten dabei Sprechchöre wie „Fort mit der SED !“ und „Revision der Oder-Neiße-Grenze“, dann erklang immer stärker die Forderung nach „Absetzung der Regierung“.
Ab 18 Uhr trafen starke Einheiten der Kasernierten Volkspolizei (KVP) und Sowjettruppen in Görlitz ein. Die KVP besetzte wieder die SED-Kreisleitung, das Dienstgebäude der Staatssicherheit und das Rathaus. Entlang der Grenze begann die Grenzpolizei zu patrouillieren. Man befürchtete offenkundig, daß es zu gemeinsamen Aktionen von Deutschen und Polen kommen könne.
Gerüchte über Aufstände polnischer Antikommunisten
In Görlitz kursierten nämlich schon tagsüber am 17. Juni Gerüchte, daß es jenseits der Neiße unter den Polen gleichfalls zu Unruhen und antikommunistischen Aufständen gekommen sei. Als in den Tagen und Wochen nach dem 17. Juni von Übungsplätzen der polnischen Armee in Grenznähe immer wieder mal Gewehr- und Maschinengewehrfeuer ertönte, erhielten diese Gerüchte neue Nahrung, die sich bis in den Juli 1953 in der Oberlausitz hielten. Es kursierten Stimmen in den Gemeinden um Görlitz und in der Kreisstadt Niesky, die von Partisanenkämpfen mit dem Ziel der Befreiung von Schlesien jenseits der Grenze raunten. In der 1.100- Einwohner-Ortschaft Zodel beispielsweise forderte am 17. Juni eine Massendemonstration der Einwohner den Rücktritt des unbeliebten SED-Bürgermeisters, und man skandierte Forderungen wie „Freie Regierung, Beseitigung der SED, freie Wahlen, Schlesien zurück und Absetzung des Abgabesolls“. Ähnlich lief es in Niesky. Die örtlichen Waggon- und Stahlbauer zogen in einer Demonstration zur SED-Kreisleitung. Dort wurden Losungen skandiert wie „Stürzt die Regierung“ und „Beseitigung der Oder-Neiße-Grenze“. In der Gemeinde Gehege sangen am 17. Juni die aufmüpfigen Lehrlinge des dortigen volkseigenen Gutes zuerst das Deutschlandlied und danach das Schlesierlied mit seinem markanten Kehrreim „Wir sehen uns wieder, mein Schlesierland!“
Das sowjetische Militärtribunal ließ nach dem 17. Juni in der DDR mindestens 18 Menschen hinrichten und deportierte mehrere hundert in sowjetische Straflager. Bis Anfang 1954 verurteilten DDR-Gerichte wenigstens 1.526 Angeklagte, davon zwei Todesurteile, drei lebenslange Strafen und mehrere hundert Zuchthausstrafen. Von den 65 Hauptbeschuldigten des 17. Juni waren nach SED-Angaben acht „Umsiedler“, was indessen als relativ wenig erscheint, denn in der DDR dürften damals etwa 25 Prozent der Bevölkerung aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße gestammt haben. Der Görlitzer Lok-Schlosser Hermann Gierich, welcher am 17. Juni die Beseitigung der Oder-Neiße-Grenze gefordert hatte, erhielt dafür 15 Jahre Zuchthaus.