© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/23 / 16. Juni 2023

Der Löwe von Bitterfeld
Eine Erinnerung an Paul Othma, den mitteldeutschen Streikführer des 17. Juni 1953
Jörg Bernhard Bilke

Schon wenige Wochen, nachdem ich im Spätsommer 1962 von Leipzig ins Zuchthaus Waldheim verlegt worden war, erfuhr ich vom Schicksal Paul Othmas (1905–1969), der als Streikführer im Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war.

Beide arbeiteten wir damals im Elektromotorenwerk Hartha, das in der Strafanstalt eine Zweigstelle betrieb, er in der Wickelei, ich im Prüffeld einen Stock tiefer. Er war am 8. November 1953 vom Bezirksgericht Halle wegen „Boykotthetze“ nach Artikel 6 der DDR-Verfassung verurteilt worden, ich am 22. Januar 1962 wegen „staatsgefährdender Hetze“ vom Bezirksgericht Halle zu dreieinhalb Jahren. Als ich ihn kennenlernte, war er 56 Jahre alt, ich 25. Eines Tages stand er unvermutet vor mir, den wir Gefangenen seiner schlohweißen Haarmähne wegen den „Löwen von Bitterfeld“ nannten. Ich reinigte gerade am Waschbecken im ersten Stock den blechernen Kaffeekübel für meine Mannschaft. Er sah mir wortlos zu. Er war, das hatte ich von Mitgefangenen erfahren, verschlossen und sprach nicht gern über sich.

Othma stammte nicht aus der preußischen Provinz Sachsen, sondern wurde 1905 in Radzionkau im Kreis Tarnowitz/Oberschlesien geboren und war mit seinen Eltern nach dem Ersten Weltkrieg ins mitteldeutsche Industrierevier gekommen, wo er das Elektrohandwerk erlernte und von 1921 bis 1941 im Elektrowerk Bitterfeld und danach in den Dessauer Junkerswerken arbeitete. Seit März 1953 war er im Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld als Elektromonteur tätig. 

Als in den Abendstunden des 16. Juni die ersten Gerüchte über den Streik der Bauarbeiter in der Ost-Berliner Stalinallee die Industriestadt Bitterfeld erreichten, schaltete er den West-Berliner „Hetzsender“ RIAS ein, denn im DDR-Rundfunk wurde über diesen aus SED-Sicht ungeheuerlichen Vorgang, daß Arbeiter gegen eine „Arbeiterregierung“ streikten, nicht berichtet.

Am nächsten Morgen, 17. Juni, rief er im Betrieb zur Demonstration in der Innenstadt auf. Der später in die Streikleitung gewählte Lehrer Wilhelm Fiebelkorn stand am Straßenrand und sah den Zug der 11.000 Demonstranten herankommen. Jahre später, nachdem er vor drohender Verhaftung nach West-Berlin geflohen war, hat er darüber geschrieben: „Dann aber, es war gegen 9.30 Uhr, schob sich eine schwarze Wand wogend vorwärts über die Bahnüberführung dicht an unserer Schule. Die Arbeiter kamen! Vor Erregung schlug mein Herz bis zum Hals. Ich sah, daß die Arbeiter sich gegenseitig untergehakt hatten. Ein jeder zog und schob jeden. Die Führung, die Masse, machte sie stark und mutig. Vor der schwarzen Menschenmasse ging ein einzelner Mann: Paul Othma.“

Es war ein gewaltiger Demonstrationszug, der die Streikenden des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld, der Farbenfabrik Wolfen und der Filmfabrik Wolfen miteinander vereinigte. Schließlich waren es 30.000 Arbeiter, die gegen 11 Uhr auf der Binnengärtenwiese („Platz der Jugend“) eintrafen. Als Paul Othma zu den Aufständischen sprach, konnte er seine Freude über den Untergang des SED-Regimes kaum verbergen: „Liebe Freunde, wenn ich heute eure strahlenden Gesichter sehe, dann möchte ich euch am liebsten umarmen und an mein Herz drücken. Der Tag der Befreiung ist da, die Regierung ist weg, die Tyrannei hat ein Ende.“

Streikleitung herrschte nur wenige Stunden im Bitterfelder Rathaus

Für wenige Stunden, bevor am frühen Nachmittag der Ausnahmezustand verhängt wurde, herrschten in Bitterfeld die revolutionären Arbeiter, die sich gegen die SED-Diktatur erhoben hatten. Als die Streikleitung im Bitterfelder Rathaus über das weitere Vorgehen beriet, war das Schicksal des Aufstands längst entschieden. Als gegen 16 Uhr bekannt wurde, daß Panzer der sowjetischen Besatzungsmacht auf Bitterfeld zurollten, wurde die Versammlung aufgelöst.

An diesem Abend ging Paul Othma, der ahnte, was ihm bevorstand, nicht nach Hause, sondern versteckte sich bei seinen Eltern, um in der Nacht bei Rudolstadt in Thüringen über die grüne Grenze nach Bayern zu fliehen. Doch die geplante Flucht war verraten worden. In der Nähe der Stadt Delitzsch wurde er von der „Volkspolizei“ festgenommen und der „Staatssicherheit“ übergeben. In der Bezirkshauptstadt Halle begannen nun wochenlange Verhöre, in denen, freilich ohne Erfolg, versucht wurde, aus dem Arbeiterführer Paul Othma einen politischen Verbrecher zu machen, der durch eine „Konterrevolution“ den SED-Staat hatte beseitigen wollen. In der Urteilsverkündung wurde er deshalb als „Feind unserer demokratischen Ordnung“ bezeichnet.

Während der Haftjahre in Waldheim blieb er seiner Überzeugung treu, als gewählter Arbeitervertreter nur seine Pflicht getan zu haben. Deshalb wurde er ständig von der Anstaltsleitung zu Gesprächen vorgeladen, er könne sofort entlassen werden, wenn er widerriefe und eingestehe, am 17. Juni 1953 Verbrechen begangen zu haben. Da er nicht widerrief, blieb er ein „Staatsverbrecher“ und mußte die zwölf Haftjahre fast vollständig absitzen. Weil er an Leberzirrhose litt und die DDR-Justiz auf keinen Fall wollte, daß er im Zuchthaus stürbe, wurde er am 1. September 1964 zu seiner Frau Hedwig nach Sandersdorf entlassen, wo er noch bis 20. Juni 1969 lebte. 

Heute wird Paul Othma in seiner Heimatstadt geehrt. Am 17. Juni 2003 enthüllte Hedwig Othma am Bitterfelder Rathaus eine Gedenktafel für ihren verstorbenen Mann, und das Sport- und Gemeindezentrum in Sandersdorf wurde in „Paul-Othma-Haus“ umbenannt.

Das traurige Schicksal des Bitterfelder Streikführers Paul Othma steht gleichnishaft für die Auslöschung der deutschen Arbeiterbewegung im SED-Machtbereich. Bis 1933 hatte diese starke politische Kraft ihre Hochburgen in Erfurt, Halle, Leipzig und Magdeburg. Hier waren auch die Pläne für eine Zukunft ohne die Kommunisten am weitesten fortgeschritten. Nach der Niederschlagung des Aufstands wurde die Geschichte im SED-Sinn umgeschrieben. Die im Ost-Berliner Dietz-Verlag 1966 erschienene „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ in acht Bänden ist eine Verfälschung des tatsächlichen Geschehens. Der Arbeiteraufstand von 1953 wird lakonisch unter dem Rubrum „Das Scheitern des konterrevolutionären Putschversuchs“ abgehandelt.






Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte seit 1958 Klassische Philologie, Germanistik und Geschichte an der Freien Universität Berlin und in Mainz. Wegen DDR-kritischer Artikel in Studentenzeitungen wurde er im Frühjahr 1961 auf der Leipziger Buchmesse verhaftet und wegen „staatsfeidlicher Hetze“ zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, die er unter anderem im berüchtigten Zuchthaus Waldheim absaß, wo er auf Paul Othma  traf.