© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/23 / 16. Juni 2023

Die Fälle Sarrazin, Gergiev und Maaßen zeigen, wie porös die Meinungsfreiheit heute ist
Recht oder Moral
Markus Scheffer

Den modernen Staat westlicher Prägung unterscheidet von anderen Herrschaftsformen wesentlich die Trennung von Recht und Moral. Sache des Staates ist es, das äußere Verhalten zu regeln, Sache des Bürgers, sich nach Maßgabe seines Gewissens eine moralische Gesinnung zu bilden. Den Grundrechten kommt die Aufgabe zu, dem Einzelnen einen unentziehbaren Freiheitsraum zu sichern, den er nach seinen eigenen Vorstellungen einrichten und gestalten darf. Der ehemalige Bundespräsident Walter Scheel (FDP) erklärte: „Die Demokratie will und kann ihren Bürgern nicht ihren Lebenssinn, handlich verpackt, liefern; den müssen sich die Bürger schon selber suchen.“

Das Gegenmodell hierzu konnte man in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) besichtigen. Hier ging es darum, neben dem äußeren Handeln der Menschen auch ihr Denken mit Hilfe einer alles umfassenden Ideologie zu steuern. Ziel war es, einen kollektiv orientierten, „sozialistischen“ Menschen zu schaffen, der sich willig in das Räderwerk der projektierten Gesellschaft einfügte. Auch hier gab es dem Namen nach Grundrechte. Sie dienten jedoch nicht dem Schutz der individuellen Freiheitssphäre, sondern berechtigten allein dazu, die sozialistische Gesellschaft mitzugestalten.

Der Arbeiter- und Bauernstaat ist untergegangen und Geschichte. Die Bundesrepublik Deutschland lebt fort. Aber sie hat sich verändert. Der Freiheitsstern verblaßt. Die kollektiven Mächte, die nach dem Fall der Mauer für überwunden galten, sind zu neuem Leben erwacht. Die politische Steuerung des Denkens ist wieder salonfähig geworden, die Moral als Lenkungsmittel neu entdeckt. Wer kennt sie nicht, die Denkverbote, Sprachregelungen und neuen Tabus. Was der Einzelne zu erwarten hat, wenn er sich der mentalen Gleichschaltung widersetzt und von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch macht, soll anhand von drei exemplarischen Fällen veranschaulicht werden.

Thilo Sarrazin (ehemals SPD), seinerzeit Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank, veröffentlichte 2010 ein migrationskritisches Buch mit dem Titel „Deutschland schafft sich ab“. Damit löste er einen Sturm der Entrüstung aus. Als eine der ersten meldete sich die damalige Kanzlerin und jetzige Großkreuzträgerin Angela Merkel zu Wort. Sie bezeichnete das Buch als verletzend und diffamierend, daher als „überhaupt nicht hilfreich“. Gelesen hatte sie es nicht, fühlte sich aber durch die Bild-Zeitung ausreichend über seinen Inhalt unterrichtet. Derart gerüstet, empfahl sie der Bundesbank in aller Öffentlichkeit, Sarrazin aus dem Vorstand zu entfernen. Die Bundesbank beantragte daraufhin beim Bundespräsidenten – in völliger Unabhängigkeit versteht sich –, Sarrazin als Vorstand abzuberufen. Er habe mit seinen provokanten und diskriminierenden Äußerungen, „insbesondere zu Themen der Migration“, „fortlaufend und in zunehmend schwerwiegendem Maße“ das Gebot der Mäßigung verletzt und dem Ansehen der Institution Schaden zugefügt, erklärte die Bank der Presse. Wenig später wurde das Entlassungsgesuch zurückgezogen, da Sarrazin freiwillig auf sein Amt verzichtete. Daraufhin erklärte die Bank, daß sie die wertenden Ausführungen aus ihrer Presseerklärung nicht aufrechterhalte. Viel Lärm um nichts?

In einer Rede vom 8. September 2010 rechtfertigte Kanzlerin Merkel ihr Verhalten. Nachdem sie einleitend ausgeführt hatte, daß die Presse- und Meinungsfreiheit für sie zu „den größten Schätzen unserer Gesellschaft“ gehöre, kam sie im Folgenden auch auf den Fall Sarrazin zu sprechen. Wörtlich sagte sie: „Das Thema Sarrazin ist aber gerade kein Thema der Gefährdung der Meinungsfreiheit, sondern es geht darum, ob und gegebenenfalls welche Folgen zum Beispiel ein Buch für einen Autor in einer besonders wichtigen öffentlich-rechtlichen Institution haben kann oder nicht.“ Übersetzt hieß das: Redet, was ihr wollt. Die Folgen habt ihr euch selbst zuzuschreiben. Nach dem Weltbild der ehemaligen Kanzlerin gibt es zwischen den Folgen einer Grundrechtsausübung und der Gefährdung des Grundrechts wohl keinerlei Zusammenhang. Konsequent zu Ende gedacht, liegt nach dieser Auffassung selbst dann kein Grundrechtseingriff vor, wenn für unangenehme Meinungsäußerungen der Kerker droht. Das Motto ihrer Rede war gut gewählt: „Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut“.

Der zweite Fall betrifft Walerie Gergiev. Der russische Staatsbürger war seit 2015 Chefdirigent der Münchner Philharmoniker. Er gilt als Freund des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) fühlte sich daher berechtigt, Gergiev ultimativ aufzufordern, sich von der russischen Invasion der Ukraine zu distanzieren: „Gemeinsam mit den Orchestervertretern der Münchner Philharmoniker erwarte ich von Ihnen als Chefdirigent des Orchesters jetzt ein deutliches Zeichen der Distanzierung von den völkerrechtswidrigen Angriffen gegen die Ukraine, und damit ein klares Signal an die Stadtspitze, die Öffentlichkeit, die Musikerinnen und Musiker der Münchner Philharmoniker und ihr Publikum bis Montag, 28. Februar (2022). Anderenfalls werden wir das Vertragsverhältnis als Chefdirigent beenden müssen.“

Da sich Gergiev nicht äußerte, wurde er fristlos entlassen. Der Oberbürgermeister gab sich enttäuscht: „Ich hätte mir erwartet, daß er seine sehr positive Einschätzung des russischen Machthabers überdenkt und revidiert.“ „Man kann gar nicht anders“, so Münchens zweite Bürgermeisterin Katrin Habenschaden (Grüne), „als Gergievs Schweigen als Zustimmung zum Krieg seines Freundes Putin zu verstehen“. Es sei notwendig gewesen, ein politisches Bekenntnis zu fordern. „Herr Gergiev hätte sich in den letzten Tagen für die Musik und gegen den Krieg entscheiden können – er hat es nicht getan.“

Mußte er auch nicht! Das Grundrecht der Meinungsfreiheit gewährleistet nicht nur, „seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern“, sondern auch, Meinungen nicht zu äußern. Erst recht schützt es davor, fremde Meinungen als eigene äußern und verbreiten zu müssen. Negative Meinungsfreiheit nennt der Rechtswissenschaftler so etwas. Das Schweigen Gergievs war damit grundrechtsbewehrt. Es kommt noch besser. Auch nach Artikel 110 der Verfassung des Freistaats Bayern hat „jeder Bewohner Bayerns“ das Recht, seine Meinung frei zu äußern. „An diesem Recht“, so heißt es weiter, „darf ihn kein Arbeits- und Anstellungsvertrag hindern und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht.“ Der Oberbürgermeister von München soll folgenden Diensteid geleistet haben: „Ich schwöre Treue dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung des Freistaats Bayern, Gehorsam den Gesetzen und gewissenhafte Erfüllung meiner Amtspflichten, so wahr mir Gott helfe.“ Die größte Ironie der Geschichte ist aber: Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik garantierte die Meinungsfreiheit mit annähernd denselben Worten wie die Bayrische Verfassung. 

Im Jahre 1961 ereignete sich folgende Begebenheit: Walter Brödel, Mathematikprofessor an der Universität Jena, hatte öffentlich geäußert, Kriege seien das Ergebnis des Unvermögens der Staatsmänner. Die SED-Parteileitung der Universität forderte daraufhin seine Entlassung. Schon zuvor war Brödel vom Staatssekretariat für Hochschulwesen aufgefordert worden, eine Grundsatzerklärung über seine Stellung zur Regierung abzugeben. Aufgrund seiner Weigerung überwachte ihn das Ministerium für Staatssicherheit. Nach dem Mauerbau 1961 entließ ihn die Hochschole fristlos. Da Brödel westdeutscher Bürger war, reiste er in seine Heimat Bayern aus. Was wäre wohl geschehen, wenn Professor Brödel seine Auffassung über den Krieg unter der Herrschaft von Oberbürgermeister Reiter kundgetan hätte?

Der dritte Fall betrifft Hans-Georg Maaßen (CDU). Der ehemalige Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz war Mitautor eines im renommierten juristischen Verlag C. H. Beck herausgegebenen Kommentars zum Grundgesetz. Seine Ausführungen sind fachlich nicht zu beanstanden. Allerdings ist Maaßen, der sich selbst bei den Wertkonservativen einordnet, für pointierte politische Meinungsbeiträge bekannt, die nicht jedermann gefallen. Ein Voltaire hätte dazu bemerkt: „Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, daß Sie sie sagen dürfen.“ Diese freiheitliche Auffassung ist vielen Zeitgenossen fremd geworden. Der Beck-Verlag gab Anfang Januar 2023 bekannt, daß man den Vertrag mit Maaßen beenden wolle. Bevor es dazu kam, kündigte dieser von sich aus. C. H. Beck distanzierte sich „von allen extremen politischen Äußerungen von Autoren, die die Grenzen des verfassungsrechtlich Vertretbaren austesten“. 

Das Ansehen des Verlags und sein Erfolg basieren auf dem „breiten Konsens einer Mehrheit in unserer Gesellschaft, die wie wir fest auf dem Boden unserer Verfassung steht“. Hat man beim Beck-Verlag kein Gespür mehr für Redlichkeit und Anstand? Erst versetzt man der Meinungsfreiheit einen Fußtritt, um sich dann als Hüter der Verfassung aufzuspielen. Genau nach diesem Muster wird heute der öffentliche Meinungskampf geführt. Politiker reden von „Demokratie“, schließen aber echte Opposition aus, beschwören den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“, betreiben aber Spaltung, sprechen von „Friedensmission“, führen aber Krieg. Nach dieser Methode braucht man die bestehende und öffentlich weiterhin verkündete Rechtsordnung formell nicht anzutasten, selbst wenn man ihr in der Sache nach Belieben zuwiderhandelt. 

Der Philosoph Karl Jaspers fragte 1966 bange: „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ Nie war diese Frage drängender als heute.






Dr. Markus Scheffer, Jahrgang 1960, studierte Rechtswissenschaften in Würzburg und Bonn. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte der Universität Bonn und ist derzeit Richter am Verwaltungsgericht Dresden