Wie schaffen es Medien, unabhängiger von Werbekunden zu werden und gleichzeitig den Abonnentenverlust zu stoppen? Der Medienunternehmer Sebastian Turner glaubt die Antwort gefunden zu haben. Er spricht von „Deep Journalism“, also „tiefgehendem Journalismus“ und hat Anfang Juni mit dem Medienwissenschaftler Stephan Ruß-Mohl ein gleichnamiges Buch dazu veröffentlicht. „Mit ausgebauten Redaktionen und Deep Journalism läßt sich der wirtschaftliche Erfolg steigern. Der Schlüssel dazu ist die Domänenkompetenz. Wer sie entwickelt, kann bei Publikum und Einnahmen gewinnen. Dabei entsteht ein neues Mediensegment: die Domänen-Leitmedien“, sagt Turner im FAZ-Interview.
Um hochwertigen Journalismus wieder in Erlöse zu verwandeln, helfe zudem ein Modell, das man mit den beiden Begriffen „Vertikalisierung“ und „Rebundling“ beschreiben könne. „Man tut also das, was gute und stark besetzte Redaktionen in der Vergangenheit schon gemacht haben, aber man verdient zusätzliches Geld und kann damit die ausbleibenden Werbeeinnahmen ersetzen und sogar noch mehr in die Tiefe gehen.“ Am Ende stehe dabei eine Art Fachabonnement – Spezialisierung und Tiefenwissen als Kernkompetenz und Geschäftsmodell.
Wie es gehen kann, macht Turner selbst vor. Parallel zu seiner Zeit als Herausgeber des Berliner Tagesspiegel von 2014 bis 2020 gründete er das Unternehmen Table Media, das zehn Bezahl-Newsletter zu speziellen Themen herausgibt: vom „professionellen Tisch-Briefing“ zu China über Bildung bis Klima. 60 Redakteure beschäftigt das Start-up nach eigenen Angaben, über Umsätze und Erträge schweigt Turner sich allerdings aus. Seine berufliche Laufbahn startete er bereits im Alter von 19 Jahren als Medienunternehmer: 1985 gründete er Medium, das „Magazin für Journalisten“, das er bis 1995 herausgab. Von 2001 bis 2008 war er Vorstandsvorsitzender der Werbeagentur Scholz & Friends, anschließend heuerte er beim Tagesspiegel an. Seit 2017 zeichnet er für Table Media verantwortlich.
Die Digitalisierung stellt die Medien vor ein Dilemma
Der 56jährige glaubt, daß die heutige Journalisten-Generation noch nie so gebildet war, dieses Wissen aber nur selten voll zum Tragen kommt. Turner bemängelt den Umstand, die meisten Redakteure müßten Generalisten sein und dürften keine Spezialisten sein. Ein Spätdienst müsse beispielsweise in Windeseile alle möglichen Neuigkeiten online plazieren, um damit Klicks zu produzieren. „Die digitale Revolution stellte die Medien vor eine schicksalhafte Frage: Sollen sie ihre Einnahmen lieber von den Lesern holen oder von der Werbung? Viele haben sich für die Werbung entschieden und damit erst ihre Inhalte und dann ihr Publikum gravierend verändert“, erklärt Turner. Zunächst habe das werbefinanzierte Modell auch zu einer Verbesserung der Qualität geführt, dieser Trend sei aber seit rund einem Jahrzehnt umgekehrt worden.
Als Dilemma bezeichnet der früher auch als freier Journalist arbeitende Turner die Digitalisierung. „Es muß nicht zuerst ein kompetenter Entscheider als zahlender Leser gewonnen werden, damit dann Anzeigen beachtet werden können. Das Publikum für die digitale Werbung kommt – oft nur für Sekunden – über Suchmaschinen und soziale Medien.“ In der Folge gehe es nicht mehr um zusammenhängendes Wissen, sondern um Zuspitzungen und Emotionen. „Das ist denkbar ungeeignet als Wissensbasis für umsichtige Entscheidungen. Dafür findet sich aber ein flüchtiges Millionenpublikum, das oft nur für Sekunden vorbeischaut. Dessen Werbeklicks bringen nur noch einen Bruchteil der früheren Umsätze der Printwerbung – aber immerhin etwas Geld in die Kasse.“
Turner, der 2012 erfolglos als von CDU, FDP und Freien Wählern nominierter parteiloser Kandidat bei der Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart kandidierte, versucht mit seinem Unternehmen zu belegen, daß es anders geht. Er nennt die kostenpflichtigen Newsletter einen wichtigen Hoffnungsträger für hochwertigen Journalismus. International ist das längst ein Trend wie der US-Anbieter Substack zeigt. Turner geht es nicht darum, durch schnelle Aufmerksamkeit „flüchtige Leser“ zu gewinnen. Er richtet sich an Entscheider und Gestalter. Als Beispiele nennt er China und die Ukraine-Krise. Kaum jemand diskutiere wirklich tiefgreifend und detailliert die Politik in China, dabei sei die dortige Entwicklung entscheidend auch für die Perspektiven in Europa.
Die Probleme der aktuellen Medienlandschaft zeige zudem Rußlands Überfall auf die Ukraine, glaubt Turner: „Es gab eine breite öffentliche Diskussion über die Pipeline Nord Stream 2. Was aber kaum oder gar nicht in der Öffentlichkeit verhandelt wurde: Wichtige deutsche Energieverteilernetze und Gasspeicher wurden in den letzten Jahren an Rußland verkauft, und sie leerten sich, je mehr russische Truppen die Ukraine umzingelten. Daß es so kam, ist die Verantwortung von Politik und Wirtschaft. Daß dies nicht rechtzeitig breit diskutiert wurde, zeigt die mangelnde Domänenkompetenz der Medien. Die Fachleute würden heute themenübergreifend im Schichtdienst das klickende Publikum bedienen, frühere Bildungsexperten über Verteidigung und Chinakundige über Sport schreiben. „Sie agieren dort, wo immer sie die Nachrichtenlage hintreibt, und es fehlt die Zeit, im angestammten Fachgebiet in die Tiefe zu gehen und auf dem laufenden zu bleiben“, beschreibt Turner die Klemme. Er glaubt, daß es eine Klientel gibt, die die Experten- und Insiderkompetenz des tiefen Journalismus zu schätzen weiß und bereit ist, dafür Geld auszugeben. Früher habe jeder Entscheider eines großen Bankhauses morgens die aktuelle Ausgabe der FAZ auf dem Schreibtisch gehabt, heute gebe es bestenfalls noch eine Handvoll im ganzen Gebäude. „Das alte Betriebssystem der Qualitätsmedien kam an sein Ende. Wer nach altem Stil werbeorientiert das wirtschaftliche Ergebnis verbessern will, stutzt notgedrungen die redaktionelle Qualität.“
Entscheider ansprechen und als Kunden gewinnen
Nicht nur in den heimischen Redaktionen, sondern auch im Ausland habe ein großer personeller Aderlaß stattgefunden. In Moskau habe der deutsche Botschafter um die Jahrtausendwende 90 Korrespondenten begrüßt, vor dem Ukraine-Krieg seien davon kaum mehr als 20 übriggeblieben. Die Aufgaben würden häufig flexible Auslandsteams in den Heimatredaktionen übernehmen. Turner verweist auf Beispiele, wo sogenannte „Verticals“ eine Marktlücke geschlossen und viel Geld verdient hätten. „Diese hochspezialisierten Publikationen leben von einer Domänenkompetenz, die alles übertrifft, was bisher angeboten wurde.“ Sie seien die neuen Expertise-Leitmedien.
Als erstaunlichstes Beispiel für diese Spezialisierung nennt Turner das ehemalige Regionalblatt Jyllands-Posten aus Dänemark. Aus ihm entwickelte sich der Vertical-Verlag Watch Medier. Seine führende Publikation widmet sich der Containerschiffahrt und beschäftigt allein für dieses Thema elf Redakteure. Das wollte Turner adaptieren, und er ist stolz auf die Erfolge. Unter seiner Führung habe der Berliner Tagesspiegel seine Redaktion durch „Verticals“ um gut ein Drittel von 150 auf über 200 Redakteure massiv ausgebaut. Aus der Nummer vier unter den Tageszeitungen sei mittlerweile der Marktführer in der Hauptstadt geworden. Die Abopreise der Zeitung wurden jedes Jahr deutlich erhöht und dennoch stieg die verkaufte Auflage.
Allen Vertical-Angeboten sei gemein, daß sie nicht mit Emotionen um die Erregbaren aus den sozialen Medien buhlen, sondern mit umfassender Kompetenz um die entscheidenden Köpfe.