© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/23 / 16. Juni 2023

Das letzte unentdeckte Land
Gesellschaftstheorie: Die Provinz zwischen „Projektraum der Großen Transformation“ und Basislager für die Revolte gegen progressive Metropolen
Dirk Glaser

Was ist Provinz? Wo liegt sie? Ist Provinz geographisch, als räumliche Kategorie überhaupt hinreichend zu bestimmen? Schwingt im Topos des Provinziellen nicht stets eine zeitliche Vorstellung mit, in der Provinz  Synonym ist für vergangenes Leben, Zurückgebliebenheit, veraltete politisch-religiöse Orientierungen, soziale Normen und Werte, die in der ungleichzeitigen Gegenwart der Nicht-Provinz nicht mehr gelten?

Unterschiede und Gegensätze zwischen Stadt und Land, bevölkerungsreichen Ballungs- und dünn besiedelten Streuungsräumen markieren ein, wenn nicht ewiges, so doch spätestens mit den Anfängen der Geschichte des Römischen Reiches erkennbares Strukturproblem sozialen Daseins. Zwischen der aufsteigenden Metropole am Tiber und der von ihr beherrschten „Gegend“ (provincia), die  zunächst nur unterworfene Nachbarterritorien auf der italienischen Halbinsel umfaßte, sich im Verlauf einiger Jahrhunderte aber zum Weltreich ausdehnte, entstand das vormoderne, die europäische Staatenwelt prägende ökonomische, kulturelle und zivilisatorische Gefälle zwischen dem Zentrum und seinen Randzonen.

In vorindustrieller Zeit meinte Provinz  allerdings nur einen punktuellen Gegensatz zwischen Hauptstadt und flachem Land. Zeigten sich die einzelnen Regionen der Agrargesellschaft untereinander doch relativ gleichartig und statisch. Das änderte sich mit Beginn der Industrialisierung schlagartig. War das Gewerbe vor 1800 dezentral und gleichmäßig über das Land verteilt, bildete sich im Zusammenspiel zwischen Bevölkerungsverschiebung und Konzentration der Produktionsstätten in  wenigen Landesteilen eine ganz neue Dimension der Verschiedenheit zwischen agrarischen und urbanen Räumen heraus.

Junge Familien entscheiden ökonomisch, nicht ideologisch

Diese ungleiche Entwicklung der Lebensverhältnisse gilt in der insoweit nicht widerlegten marxistischen Wirtschaftstheorie als konstitutives Merkmal des Kapitalismus. Weil sich das Profitmaximierungsinteresse der Kapitalbesitzer regelmäßig auf Regionen mit den besten Verwertungsbedingungen richtet, während weniger profitable „Gegenden“ unerschlossen bleiben. Aber auch bevorzugte Räume sind nur relativ kurzfristig fette Weideplätze für das goldene Kalb des nomadischen Kapitals. Denn die dort stattfindende Verdichtung von Industrie, Investitionen und Arbeitskräften führt, so doziert  Karl Marx, über steigende Grundrenten, Löhne und Sozialkosten zu erhöhten Produktionskosten und trägt damit, bis zur Erschöpfung der Ressourcen, den Keim der Entwertung des Investierten in sich. Auf der rastlosen Suche nach neuen rentablen Claims der Ausbeutung von Natur und Mensch  „jagt die Bourgeoisie daher über die ganze Erdkugel“ (Marx), so daß Entwicklungsunterschiede und daraus resultierende Spannungen zwischen Zentren und Peripherien heute ein globales Phänomen darstellen. Derzeit stehen „global cities“ mit ihren Luxus-Karawansereien für die kosmopolitische Elite der „Anywheres“ weltweit den von „Somewheres“ bewohnten „provincial hinterlands“ gegenüber (David Goodhart, „The Road to Somewhere“, 2017). Der Graben zwischen Metropolregionen und durch sie marginalisierte „Hinterländer“ ist für den die „Provinzialisierung Europas“ vorhersagenden US-Globalhistoriker Dipesh Chakrabarty inzwischen so tief, daß er den ganzen alten Kontinent darin versinken sieht („Provincializing Europe“, 2007).    

Vor diesem Hintergrund der seit dem Ende des Ost-West-Konflikts sich vollziehenden Verschiebungen im planetarischen geopolitischen Gefüge  stellt die linksliberale Zeitschrift Berliner Debatte Initial (Heft 3/2022) ein Filetstück urdeutscher Kulturkritik, den Gegensatz von Stadt und Land, urbaner Moderne und ruraler Anti-Moderne, erneut zur Diskussion. Der Zeitpunkt könnte kaum günstiger gewählt sein. Nicht allein wegen der gewandelten internationalen Konstellationen. Auch im nationalen Rahmen meldet Cora Stephan, „Die Stimme der Provinz“ auf dem Blog „Achse des Guten“, gerade mit klammheimlicher Freude: „Landleben hat wieder einmal Konjunktur“. Wie das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung dokumentiere, stieg seit 2019 die Zahl der Fortzüge aus Großstädten, während die Zuzüge seitdem rapide sanken, so daß deren Binnenwanderungssaldo auf dem niedrigsten Niveau seit 1993 liege. Stephan erinnert das an die westdeutsche Aussteiger-Bewegung der 1970er, die nicht zufällig einherging mit den militanten Anti-Atomkraft-Protesten im badischen Wyhl, im holsteinischen Brokdorf und im niedersächsischen Wendland, wo sich eine dank ihrer städtischen „Entwicklungshelfer“ politisierte Provinz im Widerstand gegen den vermeintlich „totalen Bonner Atom- und Überwachungsstaat“ übte.

Nur sind die Ursachen der „Stadtflucht“ völlig andere als vor fünfzig Jahren. Vor allem junge Familien reagieren mit Wegzug primär auf Wohnungsmangel, Mietenexplosion, fehlende Kitaplätze, Schulklassen mit 90prozentigem Ausländeranteil, expandierende orientalisch-afrikanische Parallelwelten der Verwahrlosung und der Kriminalität in bundesdeutschen Großstädten. Obwohl die Entscheidung dieser Klientel fürs Land ökonomisch und nicht ideologisch motiviert ist, sehen der Politologe Ricardo Kaufer (Uni Greifswald) und der als Museumsleiter im Oderbruch tätige Kulturwissenschaftler Kenneth Anders in ihren Debatte-Beiträgen auch in solchen Stadtflüchtlingen Garanten, weil sie sich, so Kaufer, zunehmend als idealer „Projektraum solidarischer Ökonomie und einer Nachhaltigkeitstransformation von unten“ empfehle.

Martin Heidegger als Denker der Provinz präsentiert

Im altmärkischen Ökodorf Sieben Linden, der Kommune Karmitz im Wendland und der Genossenschaft Schloß Tonndorf im Landkreis Weimar sowie mit zahlreichen weiteren „Projekten“ im noch peripheren „Sozialraum der Erneuerung“ bereite sich die Zeitenwende eines (angeblich lupenrein) linksgrünen Systemwechsels vor. Fort von der kapitalistisch-industriellen, hin zur klimaneutralen Öko-Landwirtschaft mit solidarischer Ökonomie, regionalen Kreisläufen, erneuerbarer Energie, veganer Ernährung, natürlichen Baustoffen und dörflichen „Pflegeeinrichtungen jenseits von Profitinteressen“. Und selbstredend mit politischen Bildungsangeboten, die die dafür nötige Bewußtseinsänderung im nachbarlichen Umfeld der Idylle dieser Enklaven stimulieren sollen.

Nur beiläufig erwähnt Kenneth Anders, daß die durch „landschaftskommunikative Arbeit“ geförderte, für die „gemeinsame Demokratie“ unabdingbare „Eigensinnigkeit“ der Provinz abermals von einer übermächtigen „imperialen Logik“ bedroht sei: dem Programm der Berliner „Fortschrittskoalition“ zum beschleunigten Windkraft-Ausbau. Wie einst die ebenfalls im Namen des Fortschritts technokratisch „von oben“ verfügte Bonner Atomkraft-Agenda stelle es das Planungsrecht als Kern  kommunaler Selbstverwaltung zur Disposition, setze sich über regionale Belange des Natur- und Landschaftsschutzes brutal hinweg und entmündige die „menschlichen Raumgebilde“ jenseits der Entscheidungszentralen. 

Es ist für den Historiker Tobias Becker (FU Berlin), der zu Recht fehlende Forschung über „das letzte unentdeckte Land – die Provinz“ beklagt („es gibt eine Urbanistik, aber keine Provinzialistik“), daher fraglich, ob sie eine Zukunft allein als exklusives Experimentierfeld der an inneren Widersprüchen so reichen, von der internationalen Finanzindustrie dirigierten „Großen Transformation“ haben werde. Die Menetekel seit 2016, Donald Trumps Wahl ins Weiße Haus, das britische Brexit-Referendum und die französischen Gelbwesten-Proteste, die Wahlerfolge des Rassemblement National, der AfD, der Fratelli d’Italia und anderer „rechtspopulistischer“ Parteien in Europa, deuten vielmehr darauf hin, daß sich in der Provinz eine aussichtsreiche „Revolte gegen die progressiven Metropolen“ formiere. „Links in der Hauptstadt, rechts in der Provinz“, kommentierte die taz 2022 Marine Le Pens Triumph bei den Wahlen zur Nationalversammlung.    

Nach Auffassung der Philosophen Zanan Akin (Fernuni Hagen) und Michael Meyer-Albert (Leipzig) ließen sich diese epochalen Frontverläufe  im Rückgriff auf Martin Heidegger, den 1976 verstorbenen „provinziellen Denker Deutschlands par excellence“, besser verstehen. Akin präsentiert den herausragenden, wie es korrekt heißen müßte, „Denker der Provinz“ als hochaktuellen Zeitdiagnostiker, dem früh klar gewesen sei, daß liberal-kapitalistische ebenso wie rote und braune „Machenschaften“ den „Landmann zum Ernährungsindustrie-Arbeiter“ degradiert, die Provinz  von innen heraus zerstört hätten, so daß das Land nun „städtischer als die Stadt“ erscheine. 

Ungeachtet dieses entmutigenden Befundes, der im digitalen Zeitalter zutreffender denn je sei, weil konkrete Orte und somit die jahrtausendealte Unterscheidung zwischen Stadt und Land, immer geringere Rollen für die Identität der Menschen spielten, meint der enthemmt spekulierende Meyer-Albert mit Heidegger weltanschaulich den „Vorrang der Provinz“ – einer freilich nur noch virtuellen „Immunzone des selbstwillig Eigenen“ – behaupten zu dürfen. Denn ergänzt durch die auf „kosmopolitische Urbanität“ fixierte politische Philosophie seiner Schülerin Hannah Arendt könne jedermann sich mit der den Geist der „Gelassenheit“ atmenden Provinzialität Heideggers gegen die demoralisierenden Zumutungen der Globalisierung wappnen. 

Die sozial- und geisteswissenschaftliche Fach-zeitschrift Berliner Debatte Initial erscheint viermal im Jahr

 www.berlinerdebatte.de