Die Moral, die jeder Zuschauer dieses Films auf jeden Fall mit nach Hause nimmt, lautet: „Du kannst nicht aufwachen, wenn du nicht einschläfst.“ Man kann diesen Satz als Schlüssel zum Verständnis dieses wie immer bei Regisseur Wes Anderson experimentell gewagten, stark satirischen und nur schwach an den Regeln konventionellen Erzählens orientierten Films auffassen und daraus lernen, daß Film und Traum womöglich Seelenverwandte sind.
In vielem ähnelt „Asteroid City“ seinem Vorgänger „The French Dispatch“ (JF 43/21). Der Film ist untergliedert in drei Akte, die mit apart gestalteten Einblendungen eingeleitet werden, es gibt eine kaum zu überbietende Liebe zur humoristischen Feinarbeit und eine Metaebene mit einem Erzähler, der dem kommentierenden Chor des klassischen Theaters abgeschaut ist. Statt auf eine streng logisch komponierte Geschichte mit Anfang, Höhepunkt und Ende zu setzen, verliert Anderson sich in zahllosen Nebenhandlungen und Details, deren doppelten Boden der interessierte Zuschauer sich selbst erschließen muß.
Zum Asteroidentag taucht ein Ufo mit einem Außerirdischen auf
Im Mittelpunkt der Handlung steht der frisch verwitwete Augie Steenbeck (Jason Schwartzman), der im Jahr 1955 mit der Asche seiner Frau in einer Tupperdose in dem ortlosen Wüstennest Asteroid City strandet. Eine Autopanne hindert ihn und seine vier Kinder an der Weiterfahrt. Die Gegend ist wüst und fast menschenleer, weshalb in der Nähe auch hin und wieder Atombombentests zu beobachten sind. Gerade mal 87 Einwohner haben hier laut Ortsschild ein Zuhause gefunden. Doch Asteroid City wartet mit einer großen, entscheidenden Attraktion auf, der das öde Nest auch seinen Namen verdankt: Hier landete einst ein kleiner Gesteinsbrocken aus dem Weltall, zu dessen Gedenken jedes Jahr der Asteroidentag begangen wird, ein dreitägiges Fest mit Imbißbuden, Feuerwerk und der Vergabe eines „Jugend forscht“-Stipendiums. „Für ein mächtiges Amerika“ steht unten auf dem Banner der US-Militäreinheit für Wissenschaft und Forschung, die für die Feierlichkeiten zuständig ist.
Daß es sich bei der Siedlung um eine reine Kulisse handelt, ist Asteroid City deutlich anzumerken. Denn Wes Anderson liebt, wie schon bei seinem vorigen Film „The French Dispatch“ zu sehen war, den Verfremdungseffekt aus Bertolt Brechts epischem Theater: Kreative Regie-Einfälle sorgen dafür, daß der Zuschauer nie vergißt, daß er es mit einem Kunstprodukt zu tun hat. Ein Erzähler (Bryan Cranston) und eine zweite Rahmenhandlung, die Einblicke in Nöte und Neurosen des Autors von „Asteroid City“ (Edward Norton) gewähren, lassen an der totalen Fiktionalität des Stoffes keinen Zweifel, womit auch klar ist: Hier handelt es sich um ein intellektuell anspruchsvolles, doppelbödiges und beziehungsreiches künstlerisches Geflecht, wie es auch auf der Berliner Volksbühne oder beim Berliner Ensemble auf ein zur Verwirrung disponiertes Publikum losgelassen werden könnte.
Während sich Augies herbeigerufener Schwiegervater (Tom Hanks) um die Enkel kümmert, die ihre Mutter samt Tupperdose in der Wüste beerdigen möchten, freundet der vom Glauben abgefallene Witwer sich mit der familienfeindlichen Schauspielerin Midge Campbell (Scarlett Johansson) an, die sich von dem Profi-Fotografen ablichten läßt. Die beiden kommunizieren bevorzugt durch die offenen Fenster ihrer benachbarten Ferienhäuschen miteinander.
Auf dem Höhepunkt der Feierlichkeiten passiert dann etwas, womit keiner gerechnet hat, weder Einheimische noch Touristen und schon gar nicht General Grif Gribson (Jeffrey Wright), der zum Asteroidentag die allfällige patriotische Rede hält: Ein Ufo taucht auf, ein Außerirdischer (Jeff Goldblum) betritt den Boden der Manege mit dem verehrungswürdigen Gegenstand aus dem All und stibitzt ihn. Klar, daß diese unerhörte Begebenheit Folgen hat: Asteroid City wird zum militärischen Sperrgebiet.
In den Filmen des Ausnahmekünstlers Wes Anderson gibt es selten den einen großen Star. Vielmehr hat der Regisseur nahezu sämtliche Nebenrollen mit Hollywood-Hochkarätern besetzt. Der eigentliche Star in den Filmen des gebürtigen Texaners ist in der Regel sein extravagantes Drehbuch, das diesmal auf einer Idee basiert, die Anderson zusammen mit Roman Coppola, dem Sohn des „Paten“-Regisseurs, ausgeknobelt hat.
Wer jemals einen Film des Regie-Exzentrikers gesehen hat, weiß, was ihn erwartet. Alle anderen sind hiermit gewarnt.