In das Leben einer Mailänder Industriellenfamilie – „Kleinbürger im ideologischen, nicht ökonomischen Wortsinn“ – tritt ein schöner junger Mann, dem sich Hausmädchen, Sohn und Tochter, Mutter und Vater einer nach dem anderen öffnen. Dann entschwindet der junge Mann. Das Hausmädchen wird Heilige, fährt in den Himmel und in das Grab ein. Die Tochter wird wahnsinnig, die Mutter sexsüchtig, der Sohn Künstler. Der Vater schenkt seine Fabrik den Arbeitern und zieht aus in die Wüste, mit nackten Füßen.
Doch halt, in der Oper hat der Vater gar keine Fabrik zu verschenken. Pier Paolo Pasolini schrieb das Buch und drehte den Film im Frühling des für Westeuropa so folgenreichen Jahres 1968. Der Vorbemerkung Pasolinis zum Roman zufolge war „Teorema“ drei Jahre vordem „schon als Pièce in Versen entstanden; dann verwandelte es sich in einen Film und zugleich in die Erzählung, die dem Film zugrunde liegt und die durch den Film korrigiert wurde“. Die einleitende Szene des Films und das vorletzte Kapitel des Buches hat Giorgio Battistelli in das Libretto für sein Musiktheater in zwei Teilen „Il Teorema di Pasolini“ nicht aufgenommen.
Die Erscheinung Gottes läßt eine bourgeoise Familie, die nie zusammen war, auseinanderfallen. Das Überwirkliche bricht in Verhältnisse ein, die im Hegelschen Sinne nicht mehr wirklich sind, und deren Repräsentanten zu neuem Verhalten und neuen Verhältnissen finden müssen. Die formelle Geometrie ihrer eingelernten Verhaltensweisen hält keine für ein solches Ereignis außerhalb ihrer Norm bereit, und so müssen sie ein um den andern aus der Norm herausfallen.
Schauspieler führen aus, was ihnen Sänger vorsingen
Battistellis Oper „Il Teorema di Pasolini“, die vergangenen Freitag an der Deutschen Oper Berlin zur Uraufführung kam, ist bereits die zweite Auseinandersetzung des italienischen Komponisten mit Buch und Film, mehr mit dem Buch denn mit dem Film. Der italienische Komponist hatte im Auftrag von Hans Werner Henze eine musikalische Parabel, „Teorema“, für die Münchner Biennale 1990 komponiert. In dieser ersten Oper für sechs Schauspieler, kleines Orchester, Synthesizer und die orientalischen Trommeln Daf und Zarb waren die Sänger stumm geblieben, Zeichen ihrer Unfähigkeit, miteinander zu kommunizieren, die Handlung wurde gelegentlich von einem Sprecher kommentiert.
Die neue Oper nach demselben Sujet ist eine großdimensionierte Neuvertonung. Sie kommt um mindestens 50 Jahre zu spät, jedoch wiederum nicht so früh, um in andere Zeiten zu gehen. Sie gibt dem Gewicht von Buch und Film kein Gewicht hinzu. Die musikalische Faktur ist avanciert, ihre Wirkungen kaum überraschend, ein selten unterbrochener Klangteppich aus gesampeltem Material und liegenden Akkorden vermittelt den neuen Bund zwischen Avantgarde und Hörer.
Konturen verschwimmen, die Räume beginnen zu atmen
Versöhnung und Verschmelzung scheint auch als Losung des Post-Regietheaters ausgegeben. Das britisch-irische Theaterkollektiv Dead Centre, das sind Ben Kidd und Bush Moukarzel, nimmt Theorem obenhin wörtlich: als Versuchsanordnung und Untersuchung. Auf die Hauptbühne hat Bühnen- und Kostümbildnerin Nina Wetzel kleine Guckkästen gestellt, welche die Handlungsorte in ihrer Funktion für die Familie bezeichnen: Küche, Eßzimmer, Schlafzimmer der Eltern, Jugendzimmer, Terrasse und eines für das Auto vor Naturtapete, ein FIAT 500, weniger Villa denn vielmehr Eigenheim für Kleinbürger im ökonomischen Wortsinn. Darin führen Schauspieler aus, was ihnen Sänger in der dritten Person vorerzählen und vorsingen. Mittels Kamera werden die Schauspieler groß ins Bild gebracht, von Ashton Carlisle Green geführt, tastet sie die Körper voyeuristisch ab. Die Sänger mimen auf der Vorbühne – wenig überzeugend – medizinisches Personal in Schutzanzügen, kontrollieren das Geschehen, greifen mehr und mehr ein und bringen schließlich im zweiten Teil die Schauspieler gänzlich um ihre fremdbestimmten Rollen, die sie nun auch körperlich übernehmen. Die stummen Figuren kommen zu Stimme, die vorher ausgelagerte ist ihnen nunmehr eingelagert.
Im zweiten Teil fährt die Simultanbühne zu ihrer ganzen Größe und Kleinheit auf, ein Setzkasten aus sechs Zimmern, den die Figuren hinter sich lassen, die zum Himmel auffahrende Hausangestellte auch einmal unter sich läßt: ein Filmzitat. Konturen verschwimmen, Festes verflüssigt sich, Landschaft gerät in Bewegung, die Räume beginnen zu atmen, dräuende Wolken ziehen auf; Sébastien Dupoueys verwunderliche Videos sind wunderlich schön anzusehen. Die anonymen Bühnentechniker, auch sie in weißen Schutzanzügen, die Einrichtung und Requisiten unauffällig abzuräumen haben, sind leicht zu übersehen, auch das ein Theorem. Der Orchestersatz bequemt sich expressionistischen Gesten und die Gesangsstimmen veristischen Ausdrucks- und Affektmitteln an. Die Figuren Battistellis entkommen ihrer Herkunft nicht. Die Rollen, in die sie das Erlebnis des Gastes wirft, die Heilige, die Hure, die Wahnsinnige, der Künstler und der Eremit, sind aus dem Inventar der romantischen Oper allbekannt.
Die musikalische Ausführung ist hochrangig. Unter dem Dirigat von Daniel Cohen, Generalmusikdirektor des Staatstheaters Darmstadt, singen/spielen Ángeles Blancas Guli /Paula D. Koch (Lucia, die Mutter); Davide Damiani/Christoph Schlemmer (Paolo, der Vater); Andrei Danilov/ Eric Naumann (Pietro, der Sohn); Meechot Marrero/Nelida Martinez (Odetta, Tochter); Monica Bacelli/Doris Gruner (Emilia, das Hausmädchen); Nikolay Borchev (der Gast).
Aber geht die gut konsumierbare Aufbereitung von Pasolinis Theorem nicht gegen alle Intention des Dichters und Regisseurs, Katholiken und Kommunisten, Fußballspielers und schwulen Aktivisten, des engagierten Intellektuellen? Und fällt sie nicht weit auch hinter die literarischen Techniken der Vorlage, die zugleich auch Gattungs- als Gesellschaftskritik üben, zurück? Gleichsam auf Goldgrund bebildern Musik, Inszenierung und Video brav das Buch, wie sie sich auch gegenseitig bebildern. Sie zeugen von der Schwäche des Gegenwärtigen, nicht von der Kraft des Vergangenen, gleichwohl von einem jungen Premierenpublikum einträchtig akklamiert.
Ein Kapitalist, der sich öffentlich seiner Kleider und Schuhe entledigt, wird dadurch kein heiliger Franz, der in die Wüste geht, kein Moses, der seinen Urschmerz zu einem Urschrei bündelt, nicht angstbefreit neugeboren. Wer in Vater Paolos Schrei, mit dem Battistellis Musiktheater schließt, nicht auch den Todesschrei des in der Nacht auf den 1. zum 2. November 1975 mit zertrümmertem Schädel am Strand in Ostia aufgefundenen Pier Paolo Pasolini zu denken, zu komponieren, zu inszenieren wagt, der begeht nicht nur Verrat an Pasolini, sondern auch an den Giuseppe Pelosis, den Kleinkriminellen und Mördern und Würgeengeln dieser besten aller Welten.
Die nächsten Vorstellungen von „Il Teorema di Pasolini“ an der Deutschen Oper Berlin, Bismarckstraße 35, finden am 16. und 21. Juni, jeweils um 19.30 Uhr, statt. Kartentelefon: 030 / 34 38 43 43