Es tobt mal wieder ein Krieg auf Twitter. Nicht wie sonst um den richtigen Umgang mit der Migration nach Europa oder klimapolitischen Maßnahmen der Ampel-Koalition, sondern um eine Band. Genauer genommen um ihren Frontmann und seine mutmaßlichen Praktiken im Umgang mit jungen Frauen. Auch alle großen Printmedien haben bereits Stellung bezogen. In dieser Woche machte der Spiegel den„Fall Rammstein“ sogar zur Titelstory. Es ist eine Debatte, die die Menschen spaltet und bis in die Politik hineinreicht.
Till Lindemann, Frontmann der weltberühmten Rockband Rammstein, steht im Verdacht, daß er systematisch junge Frauen für seine mutmaßlich gewalttätigen Sex-Praktiken rekrutieren ließ. Ausgangspunkt der Debatte bildet ein vor etwa zwei Wochen gepostetes Video auf Instagram einer Frau namens Shelby Lynn. Die Irin war zum Tourauftakt der Rockband nach Vilnius in Litauen gereist. Dort nahm sie an einer sogenannten Pre-Party vor dem Konzert teil, zu der sie zuvor eingeladen worden war. In ihrem Video schildert sie, daß der Sänger Sex mit ihr hätte haben wollen. Als Lynn ablehnte, soll er wütend geworden sein.
Am Tag darauf habe sich die junge Frau ihren Schilderungen zufolge mehrmals übergeben müssen und nicht aufstehen können, was sie verwunderte, da sie am Abend zuvor nur zwei alkoholische Getränke und einen Tequila-Shot von Lindemann getrunken habe. Rettungsdienst und Polizei wurden eingeschaltet. Ein Drogentest fiel negativ aus – ein Umstand, der nicht unbedingt etwas aussagt. So sind insbesondere Substanzen wie GHB und Liquid Ecstasy, die man in sogenannten K.O.-Tropfen findet, nur wenige Stunden nachweisbar. Auf dem Video ebenfalls zu sehen: blaue Flecken und große Hämatome am ganzen Körper. Wie diese entstanden sind, wisse sie nicht. Eine Vergewaltigung unterstellt sie Lindemann, entgegen vieler Behauptungen, nicht.
Der Fall erhält zusätzliche Brisanz, als die Content-Creatorin Kayla Shyx in einem Video auf Youtube von ihren Erfahrungen im Rahmen einer Rammstein-Aftershowparty berichtet. Die heute 21jährige sei vor rund einem Jahr während eines Rammstein-Konzertes angesprochen und zusammen mit ihrer 18jährigen Begleiterin auf eine Aftershow-Party eingeladen worden. Mehrmals sei ihr von Lindemanns Casting-Direktorin Alena Makeeva versichert worden, daß es nicht um Sex gehe. Detailliert schildert die Frau, der auf Youtube schon zuvor über 700.000 Menschen folgten, das „System Lindemann“. So gebe es zwei Aftershow-Partys. Eine reguläre, an der auch prominente Schauspieler und andere Personen rund um die Band teilnähmen, und eine, die mehr oder weniger aus einem Raum mit einer Couch bestehe, in dem die jungen Frauen auf Lindemann warten würden.
Während der Wartezeit seien der von der Situation verunsicherten jungen Frau immer wieder Drinks von der Russin Makeeva angeboten worden, die sie jedoch abgelehnt habe. Andere junge Frauen, die bereits auf der Pre-Party gewesen seien, hätten gemäß der Schilderungen der Youtuberin abwesend und teilnahmslos gewirkt. Eine der Frauen habe ihr davon berichtet, daß immer eine der jungen Frauen ausgewählt werde, um schon während des Konzerts in einer Pause zwischen zwei Songs Sex mit Lindemann zu haben oder ihn oral zu befriedigen. Eine Praktik, die sich mit den Schilderungen vieler anderer Frauen, die zum Teil anonym im Netz ihre Erfahrungen teilten, deckt. Lindemann sei an diesem Abend nicht mehr aufgetaucht. Stattdessen hätten alle Frauen in sein Hotel gebracht werden sollen, so Shyx weiter. Da ihr die Situation zunehmend komisch erschienen sei, habe sie an dieser Stelle die Reißleine gezogen und verließ mit ihrer Freundin das Geschehen. Inzwischen wurde das knapp 37minütige Video über 4,6 Millionen Mal aufgerufen.
Nun könnte man meinen, daß bei solch einem Thema keine zwei Meinungen existieren. Es gilt die Unschuldsvermutung für Lindemann, der inzwischen eine auf Medienrecht spezialisierte Anwaltskanzlei eingeschaltet hat und alle Vorwürfe als „ausnahmslos unwahr“ zurückweist. Zudem wenden sich die Berliner Anwälte gegen eine „unzulässige Verdachtsberichterstattung“; in einer Vielzahl von Fällen fehle es an einem Mindestbestand von „Beweistatsachen“, weshalb es zu einer „nachhaltigen Vorverurteilung“ Lindemanns gekommen sei.
Gleichwohl es gilt auch, diesen Vorwürfen mit der gebotenen Ernsthaftigkeit nachzugehen. Es ist Lindemanns gutes Recht, gegen mögliche Falschbehauptungen vorzugehen, aber als Gesellschaft besitzen wir auch eine Verantwortung gegenüber diesen jungen Frauen und ihrem Recht darauf, ihre Geschichte frei von Angst und juristischer Einschüchterung erzählen zu können. Was sich in dieser Debatte in jedem Fall zeigt, ist der tiefe Riß, der mittlerweile durch diese Gesellschaft geht und dafür sorgt, daß alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist, in einem politischen Grabenkampf zwischen Links und Rechts endet.
Dabei ist es nachvollziehbar, daß man sich Rechts der Mitte über die vorherrschende Doppelmoral von Links aufregt. Sexuelle Übergriffe durch Zuwanderer auf Frauen, wie sie seit 2015 vermehrt und auch jetzt wieder in den Freibädern stattfinden, sind in der linken Bubble noch nie ein großes Thema gewesen. Gegenmaßnahmen, um den Alltag von Frauen wieder sicherer zu gestalten, gibt es von seiten der Regierenden keine. Dafür immer mehr Zuwanderung, bei immer weniger infrastrukturellen Kapazitäten. Währenddessen folgt der Vorschlag der grünen Familienministerin Lisa Paus, Sicherheitszonen auf Konzerten für Frauen einzurichten, prompt.
Lindemann deshalb zum bloßen Opfer einer linken Hetzkampagne zu machen, die jedweder Grundlage entbehre, ist jedoch ein Schuß ins eigene Knie und nicht weniger von eben jener Doppelmoral geprägt, die man dem linken Lager zu Recht vorwirft. Wer die beinahe täglich erfolgenden Übergriffe durch Migranten auf junge Frauen anprangert, wer sich im Namen von Selbstbestimmung und Frauenrechten gegen das Kopftuch stark macht, sollte im Sinne der eigenen Glaubwürdigkeit in der Causa Lindemann nicht plötzlich das Verharmlosen beginnen und so den Eindruck nähren, daß sexueller Mißbrauch für das konservative Spektrum nur dann Relevanz genießt, wenn er von einem Asylbewerber ausgeht.
Ja, man muß sich schon über die Kommentare einiger, insbesondere konservativer Stimmen wundern. So postete die AfD vorübergehend eine Kachel mit dem Spruch „Gott weiß, ich will kein Grüner sein“ – eine Anspielung auf den Rammstein-Song „Engel“. Offenbar wollten die Urheber damit ihre Solidarität mit der Band ausdrücken.
Besonders häufig in jenen Kreisen geteilt wird auch Foto von Kayla Shyx. Es zeigt die junge Frau eine Woche nach besagtem Rammstein-Konzert in lasziver Pose. „So präsentiert sich die angeblich traumatisierte Influencerin Kayla Shyx …“ witzelt AfD-Mann Thomas Hartung, Pressesprecher der Landtagsfraktion in Baden-Württemberg, auf Facebook und erntet dafür viel Zustimmung. Als ob es einen Dresscode für Mißbrauchsopfer gäbe und als hätte Shyx jemals behauptet, eines zu sein.
Es sind überwiegend Männer, aber auch nicht wenige Frauen, die sich hinter ihrem Verweis auf die Unschuldsvermutung verkriechen und doch ganz klar mit ihren Aussagen auf einer Seite stehen: der von Till Lindemann, der es doch gar nicht nötig habe, weil sie sich ihm alle auch so an den Hals werfen würden.
In diesem Kosmos ist jede Frau so lange eine famegeile Schlampe, die sich auf Kosten des erfolgreichen Mannes bereichern will, bis das Gegenteil bewiesen ist. Die Unschuldsvermutung, die bei Lindemann so sehr betont wird, gilt nicht für sie. Und wenn sie nicht berechnend ist, dann ist sie zumindest dumm oder naiv. Schließlich wisse ja jeder, worum es bei solchen Aftershowpartys gehe. Aber auch Dummheit oder Naivität stellen keine hinreichende Rechtfertigung für das Ausnutzen selbiger dar.
Wer so argumentiert, verteidigt nicht die Unschuldsvermutung oder den Rechtsstaat. Er normalisiert Täterverhalten und erwartet Rechtfertigungen von Opfern. Wer glaubt, ein laszives Foto oder Outfit legitimiere auch nur irgend etwas, befindet sich in bester gedanklicher Gesellschaft zu einem Vergewaltiger.
Ich halte nichts von der Verabsolutierung einer einzigen Moral, wie oft von Links vorangetrieben, aber ich glaube, daß ein Minimalkonsens in Sachen Moral wichtig für die Stabilität einer Gesellschaft ist. Diesen Minimalkonsens vermisse ich in einer Debatte, in der der Vorwurf einer systematischen Rekrutierung von blutjungen Frauen für einen 60jährigen Mann zumindest im Raum steht und zu einer bloßen Geschichte über Sex, Drugs and Rock’n’Roll verklärt wird. Wer die gebotene Ernsthaftigkeit einer solchen Debatte dem linken Spektrum überläßt und selbst nur Hohn und Verachtung für die tatsächlichen oder vermeintlichen Opfer übrig hat, braucht sich jedenfalls nicht wundern, warum es speziell konservative Parteien noch immer schwer bei Frauen haben.
Nein, hier geht es schon lange nicht mehr um politische Lager. Hier geht es ganz grundsätzlich um das Bild, das wir von Frauen und auch Männern in dieser Gesellschaft haben. Und das ist nach allem, was ich von vielen aus meinem eigenen politischen Lager gelesen habe, ein äußerst fragwürdiges.
Anabel Schunke, Jahrgang 1988, ist freie Autorin unter anderem für „Die Achse des Guten“ und Kolumnistin der Schweizer „Weltwoche“.