© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/23 / 16. Juni 2023

„Keinen Anstand und keinen Respekt“
Gesundheitswesen: Protesttag gegen Apothekensterben / Medikamentenmangel und weniger Versorgungsqualität
Christian Schreiber

Ausbeutung, hohe Arbeitsbelastung, anhaltende Inflation – angestellte Ärzte und Krankenschwestern dürfen selbstverständlich streiken, um höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Ihr Arbeitskampf muß allerdings gewerkschaftlich organisiert sein und, anders als bei Bahn oder Luft­hansa ist eine „Notdienstvereinbarung“ obligatorisch. Am Mittwoch „streikte“ nun eine Berufsgruppe, von der man das nicht gewohnt ist. Denn wie die niedergelassenen Ärzte sind Apotheker keine Angestellten. Für Hausärzte besteht eine Präsenzpflicht während ihrer Sprechstunden, und die Apotheker müssen die Medikamentenversorgung sicherstellen.

Daher nennen es die Apotheker auch nicht „Streik“, sondern sie reagieren mit einem bundesweiten „Protesttag“ auf gesundheitspolitische Entscheidungen: „Für unseren Berufsstand steht fest: Die Bundesregierung hat diesen Protesttag provoziert“, erklärte Gabriele Regina Overwiening, seit 2020 Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA). Es gehe um „Liefer­engpässe, Personalnot und eine seit Jahren bestehende Unterfinanzierung“, die Politik übergehe in ihren Gesetzesvorhaben immer wieder die Probleme der öffentlichen Apotheken, sie „destabilisiere die Arzneimittelversorgung in Deutschland“.

Hohe Apothekendichte nur noch in den städtischen Regionen

Seit Monaten weise ihre Branche in persönlichen Gesprächen und Interviews vergeblich auf die brisante Lage hin: „Die Apothekenteams retten jeden Tag Leben, indem sie alternative Präparate für nicht verfügbare Arzneimittel beschaffen. Anstatt die flächendeckende Versorgung mit Arzneimitteln über die Apotheken vor Ort zu stabilisieren, wird sie geschwächt.“ Die Folge sei, daß jeden Tag eine Apotheke schließen muß, und Absolventen eines Pharmazie-Studiums könnten sich immer seltener den Gang in die Selbständigkeit vorstellen, weil die wirtschaftliche Perspektive fehle. „Darauf müssen wir aufmerksam machen“, so die 60jährige Präsidentin der Apothekerkammer Westfalen-Lippe weiter. In einem Zehn-Punkte-Papier fordert die ABDA nicht nur mehr Honorar, sondern auch die Einführung einer zusätzlichen regelmäßigen Pauschale für jede Apotheke, um eine flächendeckende Arzeimittelversorgung weiterhin sicherzustellen.

Denn die Zahl der Apotheken in Deutschland ist in den vergangenen Jahren immer weiter gesunken: Ende März gab es bundesweit noch 17.939 Apotheken – das war der niedrigste Stand seit mehr als 40 Jahren, wie aus Daten der ABDA hervorgeht. Seit Ende vergangenen Jahres gab es damit weitere 129 Apotheken weniger: 17 Neueröffnungen standen 146 Schließungen im ersten Quartal 2023 gegenüber. Der Chef des Apothekerverbandes DAV, Hans-Peter Hubmann warnt daher: „Jede einzelne Apothekenschließung wirkt sich direkt auf die Versorgungsqualität der Patienten aus“. Nun stelle sich die Frage, wie lange eine hochwertige Versorgung unter den jetzigen Bedingungen flächendeckend aufrechtzuerhalten sei.

Die seit zehn Jahren nicht erhöhte Pauschale von 8,35 Euro pro rezeptpflichtigem Medikament für Beratung müsse auf zwölf Euro steigen. Sie müsse zudem regelmäßig an die Kostenentwicklung angepaßt werden. Und bei der Standortzahl gibt es eine zunehmende regionale Kluft: Im städtischen Bereich ist die Apothekendichte nach wie vor sehr hoch. „In den ländlichen Regionen war sie schon immer etwas dünner, und in einzelnen Regionen ist sie wirklich noch mal deutlich dünner geworden“, konstatiert Jürgen Wasem, Gesundheitsökonom von der Uni Duisburg-Essen. Deswegen geben Durchschnittszahlen die Realität nur bedingt wieder: 2008, als es mit 21.602 die meisten Apotheken gab, lag der Umsatz pro Filiale bei 1,7 Millionen Euro. Bis 2021 stieg diese Summe auf rund drei Millionen Euro.

„Kein Respekt gegenüber unserer Versorgungsleistung“

Die Apothekerverbände drängen auch darauf, derzeit bestehende Sonderregelungen aufrechtzuerhalten. Die während der Corona-Pandemie erlaubte Handlungsfreiheit bei der Arzneimittelabgabe müsse beibehalten werden, sagte ABDA-Chefin Overwiening. Diese Verordnung ermöglicht es den Apotheken, beim Einlösen eines Rezepts ein adäquates Ersatzmedikament abzugeben, wenn die verschriebene Arznei nicht vorrätig ist. Doch Ende Juli läuft diese Regelung aus. Die Lieferengpässe brächten viel Mehrarbeit, die aber nicht zusätzlich vergütet werde, so Overwieinig. Auch generell sei mehr Flexibilität nötig: Denn wenn bei einem Rezept nur der kleinste Fehler auftauche, weigere sich die Krankenkasse oftmals, den Preis zu erstatten. Der Apotheker bleibt dann auf den gesamten Kosten sitzen.

Besonders erzürnt sind die Apotheker aber über das Arzneimittel-Lieferengpaßbekämpfungsgesetz (ALBVVG), welches die Bundesregierung im März auf den Weg brachte. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) räumte ein, daß es Deutschland bei der Arzneimittelversorgung „mit der Ökonomisierung übertrieben“ habe. Das wolle man nun „mit Augenmaß“ korrigieren. Doch das ist den Apothekern viel zu wenig. Das ALBVVG sei „eine Kriegserklärung des Ministers“, findet Daniela Hänel, erste Vorsitzende der Freien Apothekerschaft. 

„Der zeitliche Aufwand für Nachfragen beim Arzt und beim Großhandel sowie für Änderungen auf dem Rezept wegen der Nichtlieferbarkeit eines Arzneimittels steht in absolut keinem Verhältnis zu der Entschädigung von 50 Cent. Diese liegt jetzt gesetzlich je nach Fall bei einem Stundenlohn von ein bis zwei Euro“, so die Pharmazeutin, die seit 2006 in Zwickau eine Apotheke führt. Minister Lauterbach übe „so einen Druck auf die Patienten, die Apotheken und Arztpraxen und somit auf die gesamte Arzneimittelversorgung aus, daß man sich fragen muß, ob der Minister nicht deutlich überfordert ist“. Wer so ein „würdeloses Gesetz“ auf den Weg bringe, habe „keinen Respekt gegenüber unserer Leistung“.

Deswegen wurde nun zum ersten Mal bundesweit „gestreikt“, auch wenn das nicht so genannt werden durfte. Ob sich dadurch finanziell etwas ändert ist fraglich, denn die von Lauterbach angekündigten Beitragserhöhungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder alternativ höhere Eigenbeteiligungen sind äußerst unbeliebt.


Apotheker-Initiative „Gegen Zukunftsklau“:  www.abda.de