© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/23 / 16. Juni 2023

Kriegerische Dammbrüche
Ukraine-Krieg: Kiew beschuldigt Moskau und Moskau Kiew – den großen Schaden haben beide
Marc Zoellner

Gerade einmal hundertfünfzig Kilometer legt das kleine Flüßchen Mokri Yaly vom Städtchen Wolnowacha aus in Richtung Welyka Nowosilka zurück, bis es an der Grenze der Oblasten Donezk und Dnipropetrowsk in die Wowtscha fließt; ihrerseits ein Zufluß der Samara, die wiederum den Dnjepr speist. Für die lang erwartete ukrainische Offensive, die dieser Tage ihren Ausgang nahm, ist der Mokri Yaly indes von erheblicher Bedeutung: Fließt er doch von Süden nach Norden quer durch den äußersten Westen des Oblast Donezk und bildet so für den Vorstoß der ukrainischen Armee geographisch einen idealen Brückenkopf, um in der Nähe der Hafenstadt Mariupol an das Asowsche Meer zu gelangen. Die Metropole wurde von der Kiewer Regierung bereits mehrfach als strategisches Ziel ihrer Offensive benannt; nicht zuletzt, um die russische Landverbindung zur Halbinsel Krim abzuschneiden. Am Mokri Yaly erlebte die ukrainische Armee vergangenes Wochenende jedoch einen wortwörtlichen Dammbruch.

„Am Mokri Yaly-Fluß sprengten die Besatzer einen Damm, was zu Überschwemmungen an beiden Flußufern führte“, erklärte Valerii Shershen, Sprecher der Militärkräfte vor Ort, am Sonntag im Interview mit der ukrainischen Zeitung Ukrajinska Prawda. „Dies hat jedoch keinen Einfluß auf die Offensivoperationen der Frontverteidigungskräfte.“ Bis Montag waren bereits mehrere Ortschaften südlich Welyka Novosilkas von der Ukraine zurückerobert. Die Zerstörung des Damms verlangsamte den Vorstoß allerdings sichtlich.

Angst vor im Schlamm verborgenen Landminen 

Überflutet sind ebenso noch immer große Gebiete rund um die südukrainische Hafenstadt Cherson. Vergangene Woche Dienstag war unweit der Kleinstadt Nowa Kachowka, gut 50 Kilometer nordöstlich Chersons gelegen, der Kachowka-Staudamm gebrochen, dessen Reservoir die landwirtschaftlichen Kanäle der Südukraine bis hin zur Halbinsel Krim speist. Gegen 2.50 Uhr am Morgen war Anwohnern zufolge eine gewaltige Explosion zu vernehmen gewesen. Millionen Kubikmeter Wasser ergossen sich in der Folge den Dnjepr entlang und traten an beiden Seiten des Flusses über die Ufer. Im russisch kontrollierten Nowa Kachowka betrug der Flutpegel zwölf Meter; in Cherson stellenweise ebenso noch zwei Meter. Zehntausende Einwohner mußten beidseits des Dnjepr evakuiert werden.

Die Aufräumarbeiten gestalten sich für die verbliebenen Bewohner sowie die freiwilligen Helfer und Soldaten äußerst schwierig. Seit dem Rückzug der russischen Truppen aus Cherson im November vergangenen Jahres bildete der Dnjepr die natürliche Frontlinie zwischen russischer und ukrainischer Armee und war von beiden Seiten auf den jeweiligen Ufern stark befestigt. Die angelegten Minenfelder wurden von den Fluten jedoch fortgespült. 

Anwohner Chersons haben derzeit strengste Order, ihre Häuser und Straßen nicht zu beräumen. Im zurückgebliebenen Schutt und Schlamm vermuten Hilfskräfte noch unzählige funktionstüchtige Landminen, die bei unsachgemäßer Berührung detonieren könnten. Die Sorge um aufkeimende Infektionskrankheiten macht sich unter Verbliebenen und medizinischen Einsatzkräften breit. „Es liegt nicht nur daran, daß wir kein Wasser, Gas und Strom mehr haben“, berichten Evakuierte der britischen Tageszeitung The Guardian. „Der Friedhof, die Abwasserkanäle sind überflutet. In Cherson sind die Brunnen verdorben.“

Der Urheber der Zerstörung des Staudamms ist auch eine Woche nach der Tragödie unklar. Rußland und die Ukraine beschuldigen sich gegenseitig der gezielten Sprengung. Der Nachrichtenagentur TASS gegenüber sprach Kreml-Sprecher Dmitri Peskow von einer „absichtlichen Sabotage der ukrainischen Seite“, die sowohl die Wasserversorgung der Krim treffen sollte als auch „darauf zurückzuführen [sei], daß die ukrainischen Streitkräfte ihre Ziele nicht erreichen konnten“. Wolodymyr Saldo, Gouverneur des russisch besetzten Teils des Oblast Cherson, berichtete vom Einsatz ukrainischer Wilcha-Mehrfachraketenwerfer gegen den Staudamm ähnlich jener Aktion vom vergangenen November, als die ukrainische Armee mit Himars-Raketen die Straße auf dem Damm sowie eine Schleuse unter Beschuß nahm, um dem damaligen russischen Rückzug Verluste beizufügen. Letzteres wurde unter anderem von der Washington Post in einem Ende Dezember erschienenen Investigativreport bestätigt.

Die Ukraine hingegen beschuldigt Rußland, ihren eigenen Vorstoß über ebenjene letzte noch verbliebene Straße über den Djnepr aufhalten zu wollen – und sich beim Ausmaß der Sprengung fatal verrechnet zu haben. „Der Damm wurde so gebaut, daß er einen superstarken Aufprall von außen standhält“, bestätigte Mykola Kalinin, Chefingenieur des ukrainischen Wasserkraftunternehmens „Ukrhydroproject“, der britischen BBC. Der Damm, so seine Vermutung, welche auch die Kiewer Regierung teilt, könne nur von innen gesprengt worden sein – namentlich von russischen Sabotagegruppen. Für diese These spricht überdies, daß Rußland durch Schleusenschließung den Pegel des anliegenden Kachowkaer Stausee seit Februar dieses Jahres von 14 Metern auf über 17,5 Meter ansteigen ließ – auf den höchsten Stand des Sees seit über 30 Jahren. Im Regelfall ist der See selbst nach der Schneeschmelze im Frühjahr kaum tiefer als 16 Meter.

Abseits der Schulddebatte bleibt die Erkenntnis, daß die Tragödie vom Kachowka-Staudamm beiden Kriegsparteien mehr schadet denn nützt: Tatsächlich ist ein ukrainischer Vorstoß über den Dnjepr derzeit nahezu ausgeschlossen; Rußland kann Teile seiner bislang gebundenen Truppen an andere Brandherde der Front verlagern. Doch auch die russischen Verteidigungslinien entlang des linken Flußufers wurden von den Fluten überspült und müssen bei einer folgenden Pegelsenkung des Dnjepr mühsam neu ausgehoben werden.