© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/23 / 16. Juni 2023

„Die Stunde der Freiheit hat geschlagen“
17. Juni 1953: Der Volks-aufstand breitet sich wie ein Flächenbrand über die DDR aus. Das SED-Regime kann sich nur mit Hilfe sowjetischen Militärs behaupten
Erik Lommatzsch

Am 17. Juni 1953 bringen Arbeiter ein Transparent am Händel-Denkmal auf dem Marktplatz von Halle an: „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille!“ Jedermann sind die wenig schmeichelhaften Charakterisierungen der DDR-Führungsspitze verständlich. „Brille“ steht für den Ministerpräsidenten Otto Grotewohl, „Bauch“ für den Präsidenten Wilhelm Pieck. Mit „Spitzbart“ ist  Walter Ulbricht gemeint, Generalsekretär des Zentralkomitees der SED, der bei weitem mächtigste Politiker der sowjetisch besetzen Zone Deutschlands. Etwa 90.000 Menschen gehen in Halle gegen das von der Sowjetunion gestützte Regime auf die Straße. Knapp ein Drittel der damaligen Einwohner.

Der Volksaufstand gegen die zweite deutsche Diktatur wird in die Geschichte eingehen. Er beginnt aber früher als an dem besagten Mittwoch und endete, wie in verschiedenen Orten Mitteldeutschlands, später. In mehr als 700 Städten und Gemeinden begehren Schätzungen zufolge bis zu anderthalb Millionen der 18,1 Millionen Einwohner gegen die DDR auf.

Neben den bekannten Protesten in Ost-Berlin entwickelte der Aufstand im mitteldeutschen Raum die größte Wirkung. Demonstranten entmachten beispielsweise in Görlitz das Regime für mehrere Stunden. Ein alter Sozialdemokrat verkündet: „Acht Jahre waren wir gefesselt und geknebelt, acht Jahre durften wir nicht so sprechen, wie wir dachten. Nun ist alles vorbei. Die Stunde der Freiheit hat geschlagen … es lebe die Juni-Revolution von 1953“.

Bereits seit sich die DDR formierte, schwand die Minderheit derjenigen, die die SED-Politik freiwillig unterstützten. Viele Vertreter linker Ideale konnten dem Gebaren der moskauabhängigen Führung immer weniger abgewinnen. Die Lage eskalierte. Der DDR-Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk erkennt heute in der SED-Politik im Vorfeld des Aufstandes einen „Kalten Krieg gegen die eigene Gesellschaft“.

Fast ein Jahr zuvor, auf ihrer 2. Parteikonferenz im Juli 1952 hatte die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands beschlossen, daß in der DDR der „Sozialismus planmäßig aufgebaut“ werden solle. Die „Sowjetisierung“ des Landes sollte nun verstärkt werden. Die Partei verfestigte damit auch die deutsche Teilung. Man militarisiert die Gesellschaft zunehmend und bekämpft die Kirchen, insbesondere die evangelische „Junge Gemeinde“.

Die Wirtschaft wird auf Schwerindustrie ausgerichtet, zu Lasten anderer Industriezweige. Das Planungsbüro treibt den Ausbau des „volkseigenen Sektors“ und die Kollektivierung der Landwirtschaft voran; Selbständigkeit wird zurückgedrängt.

All dies erfolgt unter der Parole der „Verschärfung des Klassenkampfes“ und mittels massiver Zwangs- und Terrormaßnahmen. Aus ideologischen Gründen zerschlägt das Regime bestehende oder gerade wieder im Aufbau befindliche Wirtschaftsstrukturen. In der Folge verschlechtert sich die immer noch vom Krieg gezeichnete Versorgung der Bevölkerung. Die Inflationsrate steigt.

Besonders stört die Arbeiter die Erhöhung der Arbeitsnormen. Die DDR-Führung will damit ihre zum großen Teil selbst verursachte Wirtschaftskrise beheben. Die Führung in Berlin plant, die Ausgabe des Betriebsessens vom Erreichen der Arbeitsnorm abhängig zu machen. Die Erlasse erhöhen die Unzufriedenheit spürbar und stärken die Fluchtbewegungen in den Westen Deutschlands. Bereits vor der Jahreswende 1952/53 war eine Vielzahl von Streiks zu verzeichnen.

Moskau verfolgte die Entwicklung in „seiner“ Besatzungszone, der DDR, besorgt um die schwindende Stabilität. Anfang Juni 1953 beordert der Kreml eine SED-Delegation nach Moskau. Der Auftrag lautet, „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage“ umzusetzen. Die SED sieht sich genötigt, Selbstkritik zu üben und muß deutliche Korrekturen ankündigen. Ein entsprechend formuliertes Kommuniqué nimmt die DDR-Bevölkerung einerseits mit Genugtuung auf, andererseits betrachtet jedermann es als Nachweis der Unfähigkeit der Berliner Politik. Schwer ins Gewicht fällt, daß die Normerhöhung zunächst nicht zur Sprache kommt. Wenig später wird sie noch einmal ausdrücklich gerechtfertigt.

Jeder beteiligte Ort hat „seine“ Aufstandsgeschichte

Am 15. und 16. Juni schließlich demonstrieren Bauarbeiter in der Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee) und Bedienstete des Krankenhauses Friedrichhain. Ein Generalstreik für den 17. Juni wird ausgerufen. Die nach der Moskauer Klatsche offenbarte Schwäche des SED-Systems sehen viele Bürger als Gelegenheit, ihre Unzufriedenheit auszudrücken und Veränderungen bis hin zum Sturz des Regimes anzustoßen. Ein Flächenbrand greift um sich. Man demonstriert, streikt, erstürmt Einrichtungen von SED, Volkspolizei und des Ministeriums für Staatssicherheit. Besonders verhaßte Symbole verwüsten die Aufständischen. Gefangene werden befreit.

Soziale Anliegen wechseln schnell ins Politische. Vielerorts fordert das Volk, die Preise zu senken und die neuen Arbeitsnormen zurückzunehmen. Es ist die Rede von freien Wahlen, Rede- und Pressefreiheit, dem Abzug der Parteifunktionäre aus den Betrieben und der Einheit Deutschlands. Immer wieder singen Menschen das Deutschlandlied.

Zwar formieren sich vor Ort jeweils Führungsgruppen wie Streikleitungen, oder Einzelne stellen sich spontan an die Spitze. Aber ein koordiniertes Vorgehen, abgestimmte Ziele oder konkrete Vorstellungen, wie nach einem Sturz des Regimes zu verfahren sei, lassen sich nicht erkennen.

Jeder beteiligte Ort hat „seine“ Aufstandsgeschichte. Das Bild des Volksaufstandes, für den der 17. Juni 1953 steht, stellt sich als Mosaik einer Vielzahl von Einzelvorgängen dar. So etwa ruft Minister Fritz Selbmann vor protestierenden Arbeitern in Berlin: „Ich bin doch selbst ein Arbeiter!“ Worauf es ihm entgegenschallt: „Das hast du aber längst vergessen.“ Immerhin hat Selbmann sich den Demonstranten gestellt, während Walter Ulbricht mit anderen Vertretern der SED-Führung den Schutz der sowjetischen Besatzer in Karlshorst suchte.

Eine Erklärung des RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor), daß es in der DDR keine Führung mehr gäbe, kommentiert sogar der sowjetische Hochkommissar in der DDR, Wladimir Semjonow, mit den Worten: „Na, fast stimmt es doch.“ In Magdeburg beginnen die Arbeiter des „Ernst-Thälmann-Werks“ als erste, sich zu einem Demonstrationszug zu formieren, die Arbeiter des „Dimitroff-Werks“ schließen sich an, kurz danach diejenigen des „Liebknecht-Werks“. Oft gehen die Proteste im „Arbeiter- und Bauernstaat“ von Arbeitern aus. Zudem aus Betrieben, die penetrant nach kommunistischen Führungsgrößen benannt sind.

Den stellvertretenden Oberbürgermeister Leipzigs und Funktionär der Blockpartei LDPD Manfred Gerlach verprügeln die Aufständischen, als er sich einem Demonstrationszug entgegenstellt. Er wird gezwungen, an der Spitze zu marschieren, mit einem Transparent, das „Freie Wahlen“ verlangt. Gerlach soll im Dezember 1989 der letzte Staatsratsvorsitzende der DDR werden.

Schon im Laufe des 17. Juni greifen sowjetische Truppen ein und schlagen den Volksaufstand vielerorts nieder. Allein in Ost-Berlin fahren 600 Panzer vor. Polizei und Staatssicherheit allein wären nicht fähig, der Lage Herr zu werden. Mindestens 55 Todesopfer, wahrscheinlich mehr, beklagen die Aufständischen. 15.000 Menschen verhaftet das Regime. Darunter auch das SED-Mitglied Wilhelm Grothaus. Ihn hatten Streikende in Dresden an die Spitze gewählt. Die DDR macht Grothaus später im selben Saal den Prozeß, in dem er 1944 als Mitglied einer kommunistischen Widerstandsgruppe verurteilt wurde. Härte zeigt das Regime auch gegenüber dem Gewerkschaftsfunktionär Max Fettling, ebenfalls SED, der bemüht war, die Streiks abzuwenden, aber vermittelnd die Wünsche der Arbeiter angenommen hatte. Er erhält zehn Jahre Zuchthaus.

Das Regime spricht von einem „faschistischen Putsch“

In der DDR-Diktion galt der 17. Juni stets als „faschistischer Putsch“. Bis zum Untergang blieben die Ereignisse ein Trauma für SED und Staatssicherheit. Niemals akzeptiert die Führung in Berlin, daß es sich tatsächlich um einen Volksaufstand gehandelt habe. Immer wieder suchte man – nicht vorhandene – „Rädelsführer“ und „Hintermänner“. Der Logik folgend mußten die Überwachungs- und Unterdrückungsinstitutionen in der DDR ausgebaut und verstärkt werden.

Schon im August erklärt die Bundesrepublik den 17. Juni zum „Tag der deutschen Einheit“. Spätestens mit der Regierung Willy Brandt aber war das politische Interesse daran erschöpft, die Erinnerung wird eher als kontraproduktiv für die beginnende neue Ostpolitik betrachtet. Geräuschlos ersetzt Bonn den 17. Juni im Jahr 1990 durch den 3. Oktober als Nationalfeiertag. Bislang entfaltete dieser keinerlei Strahlkraft.