© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/23 / 16. Juni 2023

Routiniert verschlepptes Gedenken
Aufstand vom 17. Juni: Auch 70 Jahre nach dem DDR-Volksaufstand läßt die Grundsteinlegung für ein Mahnmal auf sich warten
Jörg Kürschner

In die Liste der politischen Topthemen hat es in dieser Woche auch das Gedenken an den Volksaufstand am 17. Juni 1953 geschafft. Gleich dreifach. Alle zehn Jahre spult die Politik zu den Jahrestagen routiniert ihr Erinnerungsritual ab. Danach verschwinden die Manuskripte der Sonntagsreden in der Ablage. Folgenlos. So warten die Opfer des Kommunismus noch immer auf das Mahnmal zu ihren Ehren. Wird das historische Ereignis vor 70 Jahren, das die DDR zum „faschistischen Putschversuch“ umdeuten wollte, zukünftig als bedeutende geschichtliche Wegmarke gewürdigt werden, wenn am Samstag die feierlichen Worte verklungen sind? 

Einen neuen Akzent setzte zu Wochenbeginn der Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider. Der Tag sei zwar im Westen früher Feiertag gewesen, aber im Osten habe es wenig Erinnerung gegeben, bis heute: „Das hängt auch damit zusammen, daß die Arbeiter arbeiten und ihre Geschichten nicht erzählt haben, wie es notwendig wäre“, betonte der aus Erfurt stammende SPD-Politiker. Er kündigte an, die Erinnerung an den Volksaufstand stärker ins Bewußtsein bringen zu wollen. Der 17. Juni sei einer der „stolzesten Momente der deutschen Geschichte“ gewesen. 

Einer der „stolzesten Momente deutscher Geschichte“

Starke Worte, die im schroffen Gegensatz stehen zur Politik im seit 1990 vereinten Deutschland. Ein Beispiel: Bereits 2015 hatte der Bundestag die Regierung aufgefordert, eine Initiative „für ein Denkmal zur Mahnung und Erinnerung an die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft an einem zentralen Ort in Berlin vorzubereiten und zu begleiten“. 2019 und 2022 folgten weitere Beschlüsse, doch es passierte nichts. Fast flehentlich hatte die SED-Opferbeauftragte Evelyn Zupke Ende 2021 den Bundestag aufgefordert, rasch einen Standort für das Mahnmal zu bestimmen. Es passierte wieder nichts.  Die Ignoranz der Politik ärgert Zupke. 

Die Grundsteinlegung für das Mahnmal solle am 17. Juni 2023 stattfinden, dem 70. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR, forderte sie vor einem Jahr. „Die Gesellschaft sei es den Opfern schuldig, daß wir da nicht noch jahrelang warten und herumeiern.“ Inzwischen steht der Standort fest: Das Mahnmal soll im Spreebogen zwischen Bundestag und Berliner Hauptbahnhof entstehen. Von einer Ausschreibung, Grundsteinlegung oder gar Fertigstellung des Mahnmals kann keine Rede sein. Kein Bundespräsident, kein Bundestagspräsident, kein Kanzler vertreten dieses Anliegen offensiv.

Ob sich daran etwas ändert, scheint fraglich. Denn Zupkes Aufgabenliste, die sie gestern in ihrem zweiten Jahresbericht präsentierte, ist die alte Aufgabenliste vom Sommer 2022. Erhöhung und Dynamisierung der SED-Opferrente, Einrichtung eines bundesweiten Härtefallfonds für ehemalige Häftlinge, verbesserte Rehabilitierung von Doping-Opfern, Einmalzahlung an Zwangsausgesiedelte, unbürokratische Anerkennung von gesundheitlichen Haft-Folgeschäden. Die mehrjährigen Verfahren zermürbten die Betroffenen, klagt Zupke.

Die frühere DDR-Bürgerrechtlerin steht mit ihrer Kritik nicht allein. Auch in der Ampelkoalition regt sich Unmut. „Der Ostbeauftragte nimmt sich nicht gerade der Opferthemen an“, monierte die FDP-Bundestagsabgeordnete Linda Teuteberg während einer öffentlichen Diskussion im Februar. Schneider spreche mehr über Transformation und Firmenansiedlungen. 

Mittlerweile ist die Rede vom „vergessenen Aufstand“

Man darf gespannt sein, ob das Nischenthema „17. Juni 1953“ mehr dauerhafte Aufmerksamkeit zuteil wird. Längst ist vom „vergessenen Aufstand“ die Rede, wie der Historiker Hubertus Knabe gerade beklagt hat. Der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder bemerkte, der 17. Juni sei zwar in der alten Bundesrepublik ein gesetzlicher Feiertag gewesen, doch seien etwa die Streikführer nie richtig gewürdigt worden. „Ein Schandfleck in der Geschichtspolitik der Bundesrepublik“.

Da wirkt es fast wie ein Akt der Wiedergutmachung, daß der Bundestag in dieser Woche den 17. Juni zum Schwerpunktthema gemacht hat. Den Auftakt hat am Mittwoch die öffentliche Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien gemacht. Wiedergutmachung, da der Bundestag den Tag je nach politischer Großwetterlage würdigte. Ab 1954 gab es zunächst Gedenksitzungen, Feierstunden oder Staatsakte, in den Jahren 1968, 1973, 1974 und 1979 fand kein besonderes Gedenken statt. 1968 gab es sogar Überlegungen, den 17. Juni als Feiertag abzuschaffen. 

Eine von der Bundesstiftung Aufarbeitung in Auftrag gegebene Studie kommt aktuell zu dem Ergebnis, daß jeder zweite Ostdeutsche und vier von zehn Westdeutschen mit dem Datum spontan den Volksaufstand verbinden. Auf den ersten Blick sei dies erfreulich, kommentierte Stiftungsdirektorin Anna Kaminsky. Wenn allerdings nur jeder siebte Befragte im Alter zwischen 14 und 29 mit dem Datum etwas anzufangen wisse, dann sei „der 17. Juni noch nicht ausreichend in der gesamtdeutschen Erinnerungskultur verankert“. 

Weitgehend in Vergessenheit geraten ist die Feierstunde des Bundestags am 17. Juni 1989. Es war der Festredner Erhard Eppler, der fast prophetisch das Ende der DDR vorhersagte. Die SED zeige „realitätsblinde Selbstgefälligkeit“, bewege sich auf dünnem Eis. „Hier handelt es sich nicht nur um dünnes, sondern um tauendes Eis, um das schmelzende Eis des Kalten Krieges. Und wer sich da nicht bewegt, aus Furcht, er könne einbrechen, dürfte dem kalten Wasser nicht entkommen.“ Die SED könne sich nicht „dem Geist des Wandels widersetzen“, so der linke Sozialdemokrat, der sich – damals sensationell – zur Einheit der Deutschen bekannte.  Keine fünf Monate später fiel die Mauer. Der 17. Juni wurde ersetzt durch den 3. Oktober.