© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/23 / 16. Juni 2023

„Es war völlig unglaublich!“
17. Juni 1953: Nirgendwo verlief der Volksaufstand gegen die DDR so erfolgreich wie in Görlitz. Anders als Berlin war die schlesische Metropole für wenige Stunden eine freie Stadt – und der Schüler Wolfgang Liebehenschel überglücklich
Moritz Schwarz

Herr Liebehenschel, zweimal haben Sie es in Ihrem Leben in die deutschen Schlagzeilen geschafft.

Wolfgang Liebehenschel: Ja, doch 1983 war es eine eher kleine Meldung, als uns die Wiedererrichtung des Görlitzer Martin-Luther-Denkmals gelang.

Wie haben Sie das als West-Berliner in der atheistischen DDR durchgesetzt, da Luther als „Fürstenknecht“ galt?

Liebehenschel: Ab 1966 habe ich dafür gekämpft. Es schien schon aussichtslos geworden zu sein, obwohl mich zeitweilig selbst Herbert Wehner unterstützte. Doch dank etwa 2.000 großzügiger Spender, meist ehemalige Görlitzer, und unendlicher Beharrlichkeit hatte ich schließlich Erfolg: Unserem Förderkreis gelang es, erstmals mit der DDR einen privat-staatlichen Vertrag zu schließen – und das ein Jahr vor dem deutsch-deutschen Kulturvertrag von 1984! Zu meiner Überraschung entdeckte ich zudem, daß unser Anliegen sogar von Erich Honecker persönlich akzeptiert wurde. Na ja, vielleicht hat auch geholfen, daß der Bildhauer Ernst Rietschel, wie auch Herbert Wehner, aus Dresden stammten und ich aus Görlitz.

Und Sie mit Luther verwandt sind.

Liebehenschel: Möglich, daß auch das Verständnis bei den Genossen weckte. Mit entscheidend war jedoch, daß sich das Luther-Bild der DDR inzwischen wandelte – vom Klassenfeind zum Aushängeschild – und 1983 der 500.Geburtstag Luthers anstand.  

Sind Sie kein Nachfahre des großen Reformators und doch mit ihm verwandt. Wie das?

Liebehenschel: Beide stammen wir von seinem Großvater ab, nur ich in 15. Generation. Lange hielt ich es für eine Familienlegende, doch dann habe ich über 16 Jahre recherchiert – es stimmte wirklich!  

Das zweite Mal waren die Schlagzeilen zwar deutlich größer, Ihre Rolle dafür wesentlich kleiner.

Liebehenschel: Ich war 17 und der 17. Juni 1953 begann als gewöhnlicher Schultag. Natürlich aber hatten wir gehört, was tags zuvor in Berlin passiert war: Aus Wut über die Erhöhung ihrer Arbeitsnormen durch die SED waren Bauarbeiter der Ost-Berliner Stalinallee und Hennigsdorfer Stahlbauer spontan in einem Protestmarsch durch die Hauptstadt gezogen. Der Funke sprang über, und nun ging es überall in der DDR los, auch bei uns in Görlitz. Arbeiter strömten aus den Betrieben, zogen an unserer Schule vorbei zum Stadtzentrum und riefen: „Weg mit den Normen!“ und „Der ‘Spitzbart’ muß weg!“ Gemeint war SED-Chef Walter Ulbricht, der die Macht im Staat hatte. Das war absolut unglaublich!  

Und da haben Sie sich angeschlossen?

Liebehenschel: Nein, denn vor der Schule waren mit Kleinkalibergewehren bewaffnete FDJ-Mitschüler postiert. Kaum aber war die Schule aus, hielt uns nichts mehr, und wir haben kräftig mitgemischt.

Was passierte?

Liebehenschel: Erst wollte die Feuerwehr uns von der Straße spritzen, aber keine Chance! Am Postplatz dann wurden Häftlinge aus dem Gefängnis geholt.

Sie meinen, nur die Politischen?

Liebehenschel: Alle. „Die Kriminellen“, hieß es, „können wir ja später wieder einfangen!“

Was war mit den Polizisten und Parteifunktionären?

Liebehenschel: Davongejagt, quer durch die Menge. Dabei setzte es auch manchen Hieb und Tritt, aber keiner wurde ernsthaft mißhandelt. Sinnlos zerstört wurde ebenso nichts, außer der SED-Propaganda. Am Obermarkt waren wir schließlich mindestens 35.000 Menschen, bei damals 100.000 Einwohnern! Der Bürgermeister wurde ab- und eine demokratische Stadtregierung eingesetzt: Görlitz war die einzige Großgemeinde der DDR, die am 17. Juni ein freies, demokratisches System gewählt hat! Inzwischen wurde auch „die deutsche Einheit gefordert“ und „Weg mit der Oder-Neiße-Grenze!“, die Görlitz ja teilte. Und schließlich erhob sich die dritte Strophe des Deutschlandliedes – ein unglaubliches Erlebnis, weil wir uns in diesem Moment alle so verbunden fühlten. Es war unser „Choral von Leuthen“, und so mancher weinte vor Ergriffenheit. Auch mir kamen fast die Tränen, und in diesem Augenblick dachte ich: „Wir haben es geschafft! Ab heute haben wir Demokratie und werden frei sein!“

Bis die Russen kamen.

Liebehenschel: Ja, unsere Freiheit währte nur einen Nachmittag. Dann, gegen vier Uhr, rollten sie an, Sowjetsoldaten auf LKW, Panzerwagen, schließlich dröhnend und kettenrasselnd zwei, drei Kampfpanzer. Die Kolosse begannen, sich in die Menge zu schieben – ganz langsam, das muß man anerkennen. Auch sah ich einige Soldaten den Helm abnehmen und winken. Die aber, wurde später gemunkelt, habe man danach schwer bestraft. Immer mehr drängten uns die vorstoßenden Fahrzeuge in die Seitenstraßen, unterstützt vom bedrohlichen Herumschwenken ihrer Geschütztürme, was enorm einschüchterte. Dann wurde ein Versammlungsverbot bekanntgegeben, und alles begann sich zu zerstreuen. Bis auf eine Ecke des Platzes, wo statt der Sowjets DDR-Volkspolizisten eingesetzt wurden. Die aber machten keinen Eindruck, sondern bekamen von der Masse Prügel angedroht und wurden übel beschimpft: Verräter! Schweine! Lumpen! etc., so daß sie nicht wagten, die Waffe zu heben. Da aber alles in Auflösung begriffen war, leerte sich schließlich auch diese Ecke.

Dann begann das Strafgericht?

Liebehenschel: Erst noch das: Vor drei Uhr waren wir zur Schule gerannt. Einige Abiturienten trafen auf den Konrektor, und einer klebte ihm spontan eine Ohrfeige, zack. Der floh und schloß sich ein. Die Jungs machten kehrt und halfen, die Schule von politischer Propaganda zu säubern: Spruchbänder, Fahnen, Bilder etc., alles flog durch die Fenster auf den Hof. Sonst wurde allerdings nichts zerstört.

Erstaunlich, wenn man bedenkt, was heute bereits an gewöhnlichen Tagen in manchen Schulen los ist.

Liebehenschel: Unsere Penne zu zerstören ist uns gar nicht in den Sinn gekommen. Stattdessen setzten wir ein Manifest für eine demokratische Schule auf – doch auch das blieb ein Traum. Der, der den Konrektor geohrfeigt hatte und ein anderer flohen noch am selben Tag nach West-Berlin und kamen nie wieder nach Hause. Einige Schüler, die von uns, wir waren etwa hundert, als Schülervertreter zum Rathaus delegiert wurden, blieben eine oder mehrere Nächte in Polizeigewahrsam. Alle wurden aber wieder entlassen, ohne weitere Folgen.

Es gab keine Strafen?

Liebehenschel: Nein, für uns wurde wohl eine Art stille Amnestie erlassen. Ob aus Nachsicht oder um weiteren Unmut zu vermeiden, weiß ich nicht.

Wurden in Görlitz Aufständische bestraft?

Liebehenschel: Ja, über Tage hinweg wurden viele verfolgt, verhaftet, verhört und eingesperrt. Der Rechtsanwalt, von dem man glaubte, er habe die Zellen der Häftlinge aufgeschlossen, bekam fünf Jahre, abgesessen drei. Der Radiogeschäftsmann, der den „Stadtfunk“ – ein System von Lautsprechern, um die ganze Stadt mit SED-Propaganda zu beschallen – für uns umfunktioniert hatte, wurde zum Tode verurteilt, später von den Sowjets zu Lebenslänglich begnadigt. Aber es gab auch andere Schicksale. Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, daß ein Demonstrant von Polizisten in eine Kiste gesteckt und diese zugenagelt und nach Dresden gebracht wurde. Als man sie dort öffnete – war er tot.

Und Sie?

Liebehenschel: Mich ließen sie in Ruhe. Doch früh am Morgen des 18. Juni weckte mich ein monotones Klatschgeräusch. Ich sah aus dem Fenster: Panzer mit drohend erhobenen Kanonenrohren walzten durch unsere Wohnstraße, so langsam, daß zu hören war, wie sich jedes einzelne Kettenglied klatschend auf dem Pflaster ablegte, um uns einzuschüchtern. Unser Weg in die Freiheit, Demokratie und in ein gemeinsames Deutschland war begraben unter den Ketten der sowjetischen Panzer.  

Nicht auch unter den Stiefeln der Volkspolizei?

Liebehenschel: Nein, die hätte uns nicht mehr unter Kontrolle bekommen, und vermutlich wäre ein Teil übergelaufen. Ohne die Rote Armee wäre der 9. November 1989 bereits der 17. Juni 1953 gewesen.

Was haben Sie aus dem Scheitern geschlossen?

Liebehenschel: Neben der Verfolgung reagierte die SED mit Zugeständnissen, um die Lage zu beruhigen, etwa wurde die Normerhöhung revidiert, im Schulunterricht weniger ideologisiert. Doch nur ein gutes Jahr später war alles wie zuvor. So bin ich 1955 auch nach West-Berlin, wo ich noch ein Jahr zur Schule ging. Und was war das für eine völlig andere Erfahrung! Hier konnte man den Lehrern widersprechen, mit ihnen diskutieren, ja sie haben uns sogar dazu ermuntert! Allein im Deutschaufsatz zu schreiben, was man dachte, und nicht was man zu denken hatte, war einfach ein großartiges Gefühl!

Was sagen Sie Leuten, die die damalige Bundesrepublik und die DDR gleichsetzen?

Liebehenschel: Daß sie nicht wissen, wovon sie reden – es war so ein Unterschied! Endlich mußte man nicht mehr auf der Hut sein, was man sagte und keiner gab einem vor, was man zu denken, wie man die Welt zu sehen hatte. Das war bürgerliche Freiheit im wahren Sinne des Wortes! Hier war das Leben tatsächlich privat, wurde man von der Politik in Ruhe gelassen, mußte sich nicht bekennen und für nichts rechtfertigen. Allerdings habe ich auch Verständnis dafür, daß die, die in der DDR blieben, versuchten, sich mit der Situation zu arrangieren und etliche auch der Desinformation der SED auf den Leim gingen. Andererseits habe ich aber auch den Eindruck, daß viele DDR-Deutsche durch die ständige Indoktrination damals gelernt haben, kritischer zu denken – und sich daher auch heute als die etwas kritischeren Bürger zeigen.

Inwiefern?

Liebehenschel: In der DDR haben wir von Beginn an die Unterwanderung der bürgerlichen Welt mit sozialistischen Ideen erlebt, weshalb viele dort für ähnliche Tendenzen heute ein feineres Gespür haben. Und sie scheinen mir auch mehr Deutsche geblieben zu sein, als wir im Westen – was nicht heißt, daß sie westliche Werte ablehnen.

Warum ist der 17. Juni heute im Grunde vergessen?

Liebehenschel: Der Wohlstand, er macht die Leute träge. Es ist ihnen nicht mehr klar, was es bedeutet, frei zu sein oder seine Freiheit zu verlieren. Und natürlich ist auch eine Ursache, daß Helmut Kohl und der Bundestag den 17. Juni als unseren Nationalfeiertag durch den 3. Oktober ersetzt haben – mit dem die Menschen weder Freiheit noch Einheit verbinden, sondern ... eigentlich gar nichts.

Ist es nicht seltsam, daß sich junge Deutsche nicht mit dem Freiheitskampf ihrer Vorfahren, sei es der Martin Luthers oder des 17. Junis, identifizieren, obwohl sie ihm ihre Freiheit verdanken?   

Liebehenschel: Ja, es gelingt mir nicht einmal, die eigenen Enkel für den 17. Juni 1953 zu begeistern.

Warum nicht?

Liebehenschel: Ich glaube, sie sind zu sehr von Schule, Medien, der Gesellschaft überhaupt beeinflußt, die meist gar nicht wollen, daß wir uns der Glanzpunkte unserer Geschichte noch bewußt sind. Es ist sehr traurig, daß es kaum Interesse für unsere Geschichte und nationales Leben gibt, wie es in den Ländern um uns herum dagegen normal ist.

Was ist zum Beispiel aus dem Singen des Deutschlandliedes geworden?

Liebehenschel: Ich habe nicht den Eindruck, daß das für die meisten heute noch ein Erlebnis ist. Zum einen ebenfalls wegen des Wohlstands, der dazu führt, daß Gemeinschaft eine immer geringere Rolle spielt. Aber auch, weil eben auch das nicht mehr gewollt ist. Schon lange vor der Wiedervereinigung war der 17. Juni im Westen zum Badetag verkommen, wie Christi Himmelfahrt zum „Vatertag“. Diese Oberflächlichkeit, das Verständnis für die Tiefe der Dinge zu verlieren, sei es in der Religion, der Geschichte, der Kultur, etwa der Baukunst, oder der Politik, könnte noch schlimme Folgen haben.  

Inwiefern?

Liebehenschel: Es zeigt sich deutlich, daß das wiederkehrt, wogegen wir uns am 17. Juni erhoben haben: die Ideologisierung der Gesellschaft! Inzwischen ist der Zug, dem Volk vorzuschreiben, was es zu denken hat und den, der nicht mitzieht auszugrenzen, erschreckend weit vorangeschritten.

Wer trägt die Schuld daran?

Liebehenschel: Im Grunde die sogenannten bürgerlichen Parteien, zumal die CDU, die nicht mehr aufzeigen, welch ideologische Komponente die Politik hat, die Zug um Zug unsere Gesellschaft umkrempeln soll, und die dieser keinen von der bürgerlichen Idee inspirierten Entwurf entgegensetzen!

Was meinen Sie mit „bürgerlicher Idee“?

Liebehenschel: Es geht doch nicht um Staus wegen der Klimakleber oder Wärmepumpen, dahinter steckt viel mehr. Nämlich die Abkehr vom Prinzip der bürgerlichen Freiheit. Die CDU aber tut, als drehe es sich nur um die Sachfrage und setzt der kulturellen Erosion dahinter nichts entgegen. – Davor kann ich nur warnen! Ich habe erlebt, was es heißt, wenn bürgerliche Politik ihr Fundament, die bürgerliche Geisteswelt, verliert: In der Folge verliert auch die Gesellschaft dieses Fundament, nämlich Kultur, Freiheit und Prosperität. Das Schlimme ist, daß der „große“ Philosoph Karl Marx zwar meinte, die Geschichte entschlüsselt zu haben, doch noch nicht einmal den Menschen verstanden hat. Dergestalt nämlich, daß eine Art „kleiner Kapitalismus“ dem Menschen von Natur aus eigen und die Grundlage jeder bürgerlichen Freiheit ist, da er den Bürger vor Abhängigkeit bewahrt. Um diese Art zu denken zu bewahren bedarf es aber der Pflege bürgerlicher Kultur, die der Nährboden echter bürgerlicher Politik ist, die wiederum dafür sorgt, daß diese Dinge erhalten bleiben. Dieser Kreislauf ist aber durch Unerfahrenheit und Versagen der „bürgerlichen“ Parteien unterbrochen. Wird er nicht erhalten oder wieder in Gang gesetzt, dann, das garantiere ich, wird unsere Demokratie, da ihr die freien Bürger fehlen, untergehen – und von einem System politischer Bevormundung, also etwas wie die DDR, ersetzt. 






Wolfgang Liebehenschel, der ehemalige Berliner Baudirektor wurde 1935 in Görlitz geboren und floh 1955 nach West-Berlin, wo er Architektur studierte. Er ist Mitglied der „Lutheriden-Vereinigung“, dem 1926 gegründeten Verein der anerkannten „Nachkommen und Stammverwandten“ des Reformators. 1999 veröffentlichte er über dessen Frau das Bändchen: „Der langsame Aufgang des Morgensterns von Wittenberg. Eine Studie und eine Erzählung über die Herkunft von Katharina von Bora“