© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/23 / 09. Juni 2023

Der Flaneur
Am Kanal
Lorenz Bien

Der Name „Landwehrkanal“ hört sich zwar vage vertraut an, doch wer neu in Berlin ist und zum ersten Mal an ihm entlangläuft, mag sich trotzdem fragen, wieso dieser Ort nicht zu den wirklich bekannten in Berlin gehört. Wieso weiß jeder Mensch in Deutschland, daß es einen Alexanderplatz gibt und das darauf ein Fernsehturm steht? Diese graue, trostlose Fläche, schmutzig noch dazu, vollständig verbaut mit Betonklötzen? Da macht dieser Kanal doch deutlich mehr her. 

Alteingesessene Berliner werden mir später erklären, daß das Kiehlufer gar nicht zu den wirklich schönen Ecken des Kanals gehören soll. Sei’s drum. Jetzt schwimmen Pollen und Blüten auf dem träge dahinfließenden Wasser, der Wind rauscht durch die Lindenbäume am Ufer und der Himmel ist azurblau. 

Kleine und größere Boote paddeln und tuckern vor mir entlang. Manche bewegen sich mit sportlichem Ehrgeiz. Auf anderen dröhnen Musikboxen und werden Weinflaschen geköpft. Wie kleine Raddampfer ziehen sie Wolken von Cannabisrauch hinter sich her.

Die stolze Proletarierin mit dem Nasenring schimpft am Telefon, als zwei Frauen am Ufer anlanden.

Ich klettere über ein Ufergeländer und setze mich nah ans Wasser. Bücher werden ausgepackt, Virilio und Klonovsky. Ersterer schreibt kompliziert, letzterer flott und launig. Für Virilio habe ich heute keinen Nerv. Während ich mir von dem gebürtigen Sachsen erklären lasse, wieso man Richard Wagner eigentlich als radikalen Linken einordnen müßte, setzt sich eine junge Frau hinter mich und telefoniert. 

Ich habe gar keine große Absicht, sie zu belauschen, aber es läßt sich auch nicht verhindern; sie redet laut und erregt. Irgendwelche Personen aus ihrem Umfeld bringen sie auf die Palme. „Ich komme aus so einem richtigen Proletarierhaushalt und muß mir dann von diesen grünen ‘Hihi, ich habe gerade mein Abi gemacht und komme aus einer Kleinstadt, weiße Menschen sind voll scheiße’-Kids irgendwas erzählen lassen“, schimpft sie los. Sie trägt einen Nasenring und hat einen kurz geschnittenen, blondierten Pony.

Ein Boot will vor uns landen, also muß ich aufstehen und die Treppe freigeben. Zwei Frauen Ende 30 steigen aus. Sie sind freundlich und sprechen englisch. Die Nasenring tragende Proletarierin rückt unwirsch ein Stück beiseite. Mich plagt mittlerweile der Hunger. In der Nähe ist ein Sudanese und wenige Minuten später sitze ich auf seiner Terrasse.