Der österreichische Getränkehersteller Red Bull, der schon seit Jahren ein Faible für Extremsportarten hat, kann seine Begeisterung auf der eigenen Internetseite nicht verbergen: „Es stimmt zwar, daß Big-Wave-Surfen heute wohl zu den High-Tech-Extremsportarten gehört, aber das Erlebnis, einen Menschen das Face einer Riesenwelle hinunterstürzen zu sehen, bleibt dasselbe wie eh und je – Adrenalin pur!“ Es gehört wenig Vorstellungskraft dazu, daß die Verfasser der Meinung sind, dieser Nervenkitzel sei besonders gut mit einem hauseigenen Brausegetränk zu meistern.
Verschwiegen wird allerdings, daß das Reiten auf hohen Wellen nicht nur eine herausfordernde Sportart ist, sondern auch nicht ohne Gefahr für Leib und Leben. Der Brasilianer Marcio Freire verunglückte im Januar dieses Jahres beim Surfen auf der berühmten weltgrößten Welle von Nazaré vor Portugal. Wenn zwischen Oktober und Februar die Atlantikmassen auf den bis zu 5.000 Meter tiefen und 230 Kilometer langen unterseeischen Nazaré Canyon treffen, ist hier Hauptsaison.
Es war das erste Mal, daß dort ein Unfall tödlich endete. Mehrere Male davor war es schon ziemlich knapp. „Risiko gehört dazu. Dessen muß man sich bewußt sein“, sagt Sebastian Steudtner im Interview mit dem Spiegel. Der 37jährige Deutsche hat die höchste Welle gesurft, die je ein Mensch bezwungen hat. Die Monsterwelle, die Steudtner am 29. Oktober 2020 in Nazaré bezwang, war 86 Fuß hoch, das sind 26,21 Meter. 6,2 Meter Höhe muß ein Brecher mindestens vorweisen, um als „Big“ zu gelten. Meer und Brandung sind an den Hotspots zwischen Mexiko und den Kanarischen Inseln so wild, daß sich die Surfer teilweise von erfahrenen Jetski-Lenkern direkt auf die Welle ziehen lassen. Große Kaliber können einen Erwachsenen bis zu 15 Meter tief unter Wasser drücken, wenn sie über einem brechen. Druck auf die Lunge, Zeit ohne Sauerstoff, Orientierung im Schleudergang: auf all das müssen sich die Sportler vorbereiten.
Die Big-Wave-Surfer-Szene mit eigenen Events in der World Surf League und speziellen Preisen wie den Billabong XXL Big Wave Awards wird traditionell von amerikanischen, australischen und brasilianischen Athleten dominiert. Steudtner gilt als Exot und ist dennoch einer der Besten. Mit 16 Jahren ist er von Bayern nach Hawaii gezogen, um dort Surfen zu lernen. Er arbeitete als Betongießer, und als sein Visum nicht verlängert wurde, schlug er sich in Europa als Türsteher und Animateur durch. Er lebte von der Hand in den Mund, hatte Schulden und doch den großen Traum, die größtmögliche Welle zu bezwingen. Irgendwann landete er in Nazaré. Heute ist er ein Star in der Branche, hat mehrere große Sponsoren wie Porsche, Siemens und Schaeffler. Mit Porsche arbeitet er im Windkanal an aerodynamischen Verbesserungen. Siemens programmiert einen „virtuellen Zwilling“ mit Daten, die von einem mit Sensoren bestückten Anzug geliefert werden. Schaeffler entwickelt eine spezielle Oberflächenbeschichtung, um die Gleitfähigkeit der Bretter zu erhöhen.
Im Schleudergang heißt es
lange Luft anhalten
Steudtner ist ein Modelathlet, seine Körperstatur ist irgendwo zwischen einem Skirennfahrer und einem Diskuswerfer angesiedelt. Er hält es für möglich, eines Tages eine Welle von mehr als 50 Metern Höhe zu bezwingen. Nur mit Fitneß geht das nicht. „Um noch höhere Wellen zu beherrschen, muß man Grundlegendes ändern. Das Board muß schneller werden, bei Geschwindigkeiten jenseits von 80 Stundenkilometern muß es stabiler und auch bei extremem Tempo noch manövrierfähig sein“, erklärt er. Dabei helfen ihm seine Sponsoren. Doch öffentliche Auftritte von ihm sind rar. Das hat seinen Grund. Denn neben einem professionellen Training ist für Steudtner und seine Kollegen vor allem eines wichtig: Geduld.
Wie wichtig die ist, zeigt ein Blick auf Hawaii. Dort findet beziehungsweise soll einmal im Jahr ein Wettkampf namens „The Eddie“ stattfinden. Doch der geht nur über die Bühne, wenn die Brandung während der Wintersaison konstant groß genug ist. Auch der Wind, die Gezeiten und die Richtung der Dünung müssen stimmen. Das ist nicht allzu häufig der Fall, weshalb die Veranstaltung, obwohl sie bereits 1985 ins Leben gerufen wurde, seitdem nur neunmal stattfand. Und so analysieren Steudtner und andere Extrem-Wellenreiter den Wetterbericht genauso intensiv wie den Ernährungsplan. Deswegen kann Steudtner öffentliche Auftritte nicht planen: „Ich warte immer auf die größte Welle, darum kann ich auch nie irgend etwas zusagen.“ Zugesagt hat er aber, als ihn Jürgen Klopp, Trainer des FC Liverpool, 2019 ins Trainingslager einlud. Steudtner, seit Jahren mit Klopp befreundet, sollte den Fußball-Millionären vermitteln, wie ein Leistungssportler mit Extremsituationen umgeht. „Angst“ sei keine Schande: „Wenn ich keine Angst hätte, würde ich nicht mehr leben. Angst ist der rationale Teil im Gehirn, der dir sagt: Du mußt dich vorbereiten.“