© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/23 / 09. Juni 2023

Entwicklung von Alternativen notwendig
Ein „Weltchemikalienrat“ soll Obergrenzen für gefährliche Stoffe fixieren / Pestizid-Abgabe für Agrarbereich?
Udo Stock

Seit 1950 ist die Chemieproduktion um das 50fache gestiegen. Bis 2050 wird sich diese Menge noch einmal verdreifachen. Auf dem Weltmarkt sind derzeit etwa 350.000 verschiedene Chemikalien verfügbar: Kunststoffe, Pestizide, Industriechemikalien – in Konsumgütern wie Arzneimitteln. Die meisten dieser Stoffe gab es vor Beginn menschlicher Aktivitäten entweder nicht oder nur in geringeren Konzentrationen. Obwohl ihre Auswirkungen auf Natur und Mensch, wie Markus Große Ophoff (Hochschule Osnabrück) und Klaus Günter Steinhäuser (bis zur Pensionierung 2014 beim Umweltbundesamt) einräumen, „oft weitgehend unbekannt“ sind, wollen sie nicht warten mit ihrer in der linksgrünen Zeitschrift Politische Ökologie (171/23) propagierten „Chemiewende“.

Produktion und Einsatz dieser Substanzen seien schnell drastisch zu verringern, denn „die Zeit drängt“, so die beiden im BUND-Arbeitskreis Umweltchemikalien engagierten Chemiker. Stehe doch längst fest, daß eine Vielzahl anthropogener Stoffe, allen voran Plastik und Fluorchemikalien (PFAS), biologisch kaum abbaubar sind. In den vergangenen 70 Jahren hätten sich solche „Ewigkeitschemikalien“ daher in der Natur bis an den Kippunkt der Belastbarkeit des Erdsystems angereichert.

Selbst mit dem „fortschrittlichsten Chemikaliengesetz der Welt“, der EU-Verordnung Reach von 2007, seien von der Globalisierung getriebene Stoffströme offenbar nicht mehr beherrschbar. Bis zum Ersatz gefährlicher Stoffe vergehe nach dem Reach-Verfahren zuviel Zeit. Auch würden sie häufig durch ähnliche Stoffe ausgetauscht, die sich Jahre später ebenfalls als gefährlich erweisen. Zudem enthalte die bisherige Gesetzgebung keinerlei Regelungen, um die Produktion und Freisetzung von Chemikalien insgesamt auf ein niedrigeres Niveau zu drücken. Anders als bei den CO2-Emissionen, wo das Pariser Klimaabkommen seit 2015 Reduktionsziele vorgibt, fehlen solche Obergrenzen für die Chemieindustrie. Nach dem Pariser Muster schlagen Große Ophoff und Steinhäuser daher vor, auf UN-Ebene ein globales „wissenschaftlich-politisches Gremium für Chemikalien und Abfälle“ auf den Weg zu bringen, das schon 2024 analog zum Weltklimarat und zum Weltbiodiversitätsrat als „Weltchemikalienrat“ installiert sein sollte, der dann ein für alle Vertragsstaaten verbindliches „Weltchemikalienabkommen“ vorbereite.

Können fast alle Fluorchemikalien kurzerhand verboten werden?

Im Unterschied zu den für die NGO „Women Engage for Common Future“ tätigen Johanna Hausmann (Politikberaterin) und Hanna Mertes (Gesundheitswissenschaftlerin), die in ihrem Beitrag fordern, die gesamte, seit den 1940ern hergestellte Gruppe der Fluorchemikalien kurzerhand zu verbieten, sind sich Große Ophoff und Steinhäuser der Folgen einer Radikallösung bewußt. Eine solche verfolgt übrigens zumindest im Ansatz die EU-Kommission mit ihrer „Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit“ (CSS), die, außer Deutschland, bisher jedoch nur vier EU-Mitgliedsstaaten unterstützen. Bis 2025 sollen demnach PFAS aus „allen nicht wesentlichen Anwendungsbereichen“ verschwinden.

Bereits die Umsetzung dieser moderaten Verbots­politik wäre unter Beachtung des zentralen Axioms von Große Ophoff und Steinhäuser schwierig: „Die heutige Welt ist ohne Chemikalien und die vielfältigen Produkte, die aus ihnen in anderen Industriezweigen hergestellt werden, nicht mehr denkbar.“ Darum schüfen nicht Verbote, sondern nur Entwicklungen alternativer Stoffe die Wende zur nachhaltigen Chemie. Deren Substituierung müsse man begleiten durch forcierte Kreislaufwirtschaft. Materialien seien so herzustellen, daß sie dauerhaft genutzt, reparierbar und am Ende der Gebrauchsphase recycelt werden können. Leider stehe man gerade beim Recycling von Kunststoffen dabei „noch sehr am Anfang“.

Abgesehen von solchen praktischen Detailproblemen zeigt sich, daß die Chemiewende ohne Änderung des westlichen Lebensstils nicht zu haben ist. Damit will der „Pestizidexperte“ Lars Neumeister beim Nahrungskonsum beginnen. Mittels einer Pestizid-Abgabe auf alle Agrarprodukte lasse sich eine von Chemikalien unabhängige Öko-Landwirtschaft fördern. Deren Erträge fielen vielleicht geringer aus, was aber wiederum die erwünschte massive Reduktion der „umweltfeindlichen Nutztierhaltung“ erzwinge, die bisher das Gros des Futtermittelanbaus verschluckt habe.