© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/23 / 09. Juni 2023

Dabeisein ist alles
Die kritische Analyse des Philosophen Panajotis Kondylis über den Konservativismus, der sich lange von seiner Ursprungsidee entfernt hatte, wurde wieder neu aufgelegt
Eberhard Straub

Unsere politischen Redensarten – liberal, sozialistisch, konservativ, reaktionär, rechts oder links und die mit ihnen zusammenhängenden weiteren Ableitungen – sind Überbleibsel aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Daran erinnerte 1986 Panajotis Kondylis in seinem mittlerweile klassisch gewordenen Buch: „Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang“. Das lange vergriffene und nur noch selten antiquarisch zu erwerbende Werk hat der Berliner Verlag Matthes & Seitz jetzt dankenswerterweise wieder aufgelegt. Damals entsprachen solche Charakterisierungen noch gesellschaftlichen Gruppen, dem Bürger, dem Arbeiter, dem Adel oder dem Bauern. In der Massendemokratie lösten sich diese Unterscheidungen auf. Wer sie heute noch verwendet, bedient sich substanzlos gewordener Redensarten aus purer Verlegenheit, weil es im 20. Jahrhundert nicht mehr gelang, für die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse konkrete Begriffe zu finden.

Ganz ohne Unterscheidungen kommt die Wertegemeinschaft der wehrhaften Demokraten nicht aus, schon um ihre Feinde charakterisieren zu können, die sie als „Faschisten“ und „Nazis“ beschwören, obschon Faschisten und Nationalsozialisten ebenfalls nur auf längst obsolet gewordene, historische Erscheinungen verweisen. Nicht weit vom Faschisten entfernt wird von ihnen der Konservative oder Rechte angesiedelt, selbst wenn er sich liberal-konservativ nennt. Denn Konservative und Rechte wehrten sich angeblich immer gegen Demokratie, Aufklärung und Wissenschaftlichkeit. 

Diese Klischees verwirft der griechische Historiker, der 1998 gestorben ist. Er hat aber auch nur Spott übrig für die Gemütsergötzlichkeiten, mit denen Liberal-Konservative vor allem in der Bundesrepublik immer noch ihre geistig-moralische Befindlichkeit umschreiben: Leben aus dem, was immer gilt, was dazu verpflichte, Verhältnisse zu schaffen, die es wert sind, bewahrt zu werden. Solche „Konservative“ unterscheiden sich gar nicht von den „Machern“ und „Zukunftsgestaltern“, die danach streben, die Wirklichkeit ihrem Willen und ihrer Vorstellung zu unterwerfen.

Die Konservativen verschwanden in den Reihen der Kapitalisten

Sie mußten sich daher daran stoßen, daß Panajotis Kondylis dem Konservativismus eine scharf umrissene Gestalt zurückgab. Der Konservativismus ist keine Weltharmonielehre. Er ist vielmehr eine ideelle und sozialpolitische Strömung, die unmittelbar mit den Interessen des Adels verbunden ist, der konservativ wurde, um seine gefährdete Herrschaftsstellung zu behaupten. Er befand sich seit dem 16. Jahrhundert, seit dem Aufkommen des modernen, bürokratischen, rationalisierenden und zentralisierenden königlichen Staates, im Widerspruch zu allen Tendenzen, die allmählich die herkömmliche societas civilis, die feudale Gesellschaft, mit ihren Rechten, Freiheiten und Korporationen unter der Autorität des Rechtes vereinheitlichen und umformen wollte. Der Konservativismus als historisch-soziologische Konstruktion verteidigte mit den Privilegien des Adels die alte Gesellschaft überhaupt, die auf Freiheiten beruhte, um jedem das Seine zu erhalten.

Mit den Interessen des Adels ließen sich sehr viele andere Interessen all derer verbinden, die im Zuge der Verstaatlichung, der Modernisierung und später der Industrialisierung benachteiligt wurden. Daraus ergab sich die zuweilen sehr überraschende Kraft adelig-konservativen Protestes gegen monarchische Staatlichkeit. Die heroischen Zeiten des Konservativismus liegen im 17. und 18. Jahrhundert. Der Adel erinnerte immer wieder daran, zur „Konservierung des Gemeinwesens“ verpflichtet zu sein, die mit der „Conservierung unserer Privilegien“ zusammenfiel. Insofern konnte sich der Adel als principe concervateur de l’état begreifen. Da Aristokraten sich leitende Positionen erhalten wollten, konnten sie sich allerdings nicht vollständig dem königlichen Staat verweigern, der im Bürger einen Verbündeten fand, um den störrischen Adel zu domestizieren. 

Hier beginnen die Inkonsequenzen des konservativen Prinzips, mit denen der Adel sich wegen dauernder Prinzipienlosigkeit um seine Überzeugungskraft im 19. Jahrhundert bringen mußte. Mit der Französischen Revolution, welche die Tendenz zum Interventionsstaat im demokratischen Absolutismus fortsetzt, wurde die alte societas civilis als heillos veraltet beseitigt. Der Feind des monarchischen Absolutismus, der Adel, erkannte nun aus Protest gegen den demokratischen Staatsabsolutismus im Prinzip der monarchischen Legitimität den besten Schutz vor liberalen, bald demokratischen Bestrebungen. Der staatsfeindliche Konservativismus wandelte sich zum staatstragenden Element. Aristokraten hatten als Besitzende Angst vor den „gefährlichen Klassen“, den Unterschichten. Das trieb sie in die Arme der Liberalen, die sich nicht minder ängstigten, um ihre Kapitalien gebracht zu werden. Konservative, welche erhebliche Bedenken gegen das Kapital und den Wettbewerb hatten, verzichteten nun auf allzu drastische antibourgeoise Polemik und suchten die Solidarität mit allen anderen Besitzenden. 

Aus Adligen wurden Agrarunternehmer. Sie verschwägerten sich mit den liberalen Kapitalisten. Beide zusammen vereinigten sich gegen Sozialisten und Demokraten, damit Leistung sich weiterhin lohne und jeder, der in die Hände spuckt und seine Chancen nutzt, als nützliches Element der Gesellschaft anerkannt wird. Damit war garantiert, daß Deutschland zu Wasser und zu Lande Weltgeltung behält und in der Liga der führenden Völker mitspielen kann. Das setzte voraus: staatliche Effizienz, berufsbezogene Ausbildung, freie Marktwirtschaft und so wenig Sozialstaat wie möglich.

Für Panajotis Kondylis gibt es seit „der Gründerzeit“ im Kaiserreich keinen Konservativismus mehr, der noch diesen Namen als eine selbständige Richtung verdient. Die Konservativen verschwanden in den Reihen der Kapitalisten. Konservativ sein hieß seitdem, dem Antikapitalismus entgegenzutreten, dem Sozialneid zu wehren und den sozialistischen Unfug zu unterbinden, die Belastbarkeit „der Wirtschaft“ zu erproben. Der Sieger blieb die Dreieinigkeit von Marktwirtschaft, globaler Konkurrenz und dem immer beweglichen Geld, wogegen Konservative in zähen Rückzugsgefechten lange gekämpft hatten. 

Diese Dreieinigkeit wirbt für sich als Mitte, als Inbegriff liberal-konservativer demokratischer Eintracht und der von ihr gebildeten Verantwortungsgemeinschaft in einer Konsensdemokratie. Wer sich ihr verweigert, gerät sofort in den Ruf, unzeitgemäß und ein Verschwörer zu sein, der das System destabilisieren will. In diesen Verdacht möchten gerade jene nicht geraten, die vorgeben, aus dem zu leben, was immer gilt. Dabeisein ist alles. Und insofern stören sie nicht weiter, weil sie überflüssig geworden sind. Ein solches Urteil wird auch heute die liberal-konservativen Elemente verärgern, die mit unverbindlichen Sinnsprüchen glauben, für den geistig-moralischen Wandel unentbehrlich zu sein.

Panajotis Kondylis: 

Konservativismus.

Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2023, gebunden,

869 Seiten, 58 Euro