Auf dem Weg zu den Räumen der Ausstellung „Verdammte Lust“ im Museum der Erzdiözese München und Freising, das im Oktober vorigen Jahres nach langjähriger Renovierung wiedereröffnet wurde, passiert der Besucher ein eindrucksvolles Gemälde: Der gebräunte Körper eines Adonis, dessen homoerotisches Aussehen ins Auge sticht, ist mit Pfeilen durchbohrt. Aus der Wunde scheint eher Ketchup als Blut zu fließen. Das französische homosexuelle Künstlerpaar Pierre et Gilles läßt sein Modell vor kriegerischem Hintergrund posieren. Auf dem Bild mit dem Titel „Saint Sébastien de la Guerre“ sind Schiffe und Flugzeuge zu sehen. Sie stehen in deutlichem Kontrast zu den herkömmlichen Geschossen, die scheinbar weder den modernen Sebastian niederstrecken können noch den spätantiken Märtyrer gleichen Namens.
Solche Sujets plausibilisieren die Karriere eines bekannten Motivs der christlichen Ikonographie: Der überlieferte Glaubenszeuge ist längst zum Pin-up-Boy der LGBTQ-Lobby mutiert. Sie blickt vor allem auf den Körper des Jünglings, weniger auf hagiographische Inhalte und stellt so ihren eigenen Märtyrer gern offensiv heraus. St. Sebastian fungiert auch als Schutzheiliger gegen ansteckende Krankheiten. In den 1980er Jahren dachte man in den einschlägigen Kreisen eher an Aids als an die Pest.
Das spannungsreiche Verhältnis von Kirche und Sexualität ist bekannt. Selten aber ist der Facettenreichtum dieser Relation so eindringlich und vielschichtig herausgearbeitet worden wie in der aktuellen Ausstellung. In acht Stationen werden unterschiedliche Weisen des Umgangs mit dem Körper vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert gezeigt: der schamlose Körper, der sündige Körper, der sinnliche Körper, der reine Körper, der verbotene Körper, der erlaubte Körper und der verletzte Körper. Am Ende steht das Eingeständnis: Es bleibt schwierig!
Besonders offensichtlich im Rahmen dieser Tour d’horizon sind die Freiräume, die sich Künstlern zu allen Zeiten geboten haben, wenn sie sich mit Themen wie unterdrückter sowie offen zur Schau gestellter Lust, sexueller Gewalt, Frivolität, Normabweichung, Scham, Doppelbödigkeit, Abhängigkeiten, Tabus und Prüderie auseinandergesetzt haben. Die Spannbreite ist unüberschaubar. Künstler sind in der Lage, zu codieren. Sie können sagen, was nicht klar gesagt werden darf, aber doch im Raum steht. Nicht selten gelingt es ihnen, den Schleier der Heuchelei wegzureißen, der sich zu allen Zeiten über menschliche Beziehungen legt. Der Umgang mit der heiklen Problematik ist mitunter ebenso frech, offen wie versteckt. Die Möglichkeiten der Künstler gehen sogar noch über die von Schriftstellern hinaus. Kunst ist in allen Epochen ein aussagekräftiger Spiegel der Lebensverhältnisse. 170 Exponate der Ausstellung belegen diese Behauptung hinreichend. Exemplarisch sind Leihgaben aus Paris, Prag, Wien und Kopenhagen zu erwähnen, darunter herausragende Werke von Leonardo da Vinci, Michelangelo, Tintoretto, Lucas Cranach und Guido Reni zu nennen.
Kirchenvater Augustinus setzte
das Dogma der Erbsünde durch
Bereits die Videoinstallation am Eingang der Schau bietet ein Bild vom Dreh- und Angelpunkt der christlich-jüdischen Sicht von Geschlechtlichkeit: Eine Gruppe nackter Menschen läuft in einem Garten herum – und fällt. Schnell erheben sie sich wieder. Der Fall der von Adam und Eva symbolisierten Menschheit im Horizont der Kirchen- und Theologiegeschichte ist tatsächlich tief. Scham und Sexualität sind gemäß einer langen Interpretation des biblischen Schöpfungsberichtes Folge des Verstoßes gegen das göttliche Gebot, vom Baum der Erkenntnis nicht zu essen.
Seit diesem schuldhaften Vergehen werden nicht zuletzt Scham sowie Fortpflanzung unter Mühen und Schmerzen im Leben der Menschen Wirklichkeit. Eine Rückkehr zum prälapsarischen Zustand erschien undenkbar. Ob es im Paradies nicht nur eine Existenz ohne Sünde und Tod, sondern auch eine unbeschwerte Sexualität gegeben hat, ist (vor allem mangels biblischer Belege) umstritten. In der Kunst jedenfalls waren Darstellungen fröhlicher Nacktheit keine Seltenheit. Theologenmeinungen wichen von dieser Perspektive zumeist ab. Heute betonen Vertreter der Zunft allerdings, wie der Beitrag des Münchner Moraltheologen Christof Breitsameter im Essayband des Ausstellungskatalogs belegt, den Gedanken, daß der Schöpfungsbericht (in ätiologischer Absicht) das harmonische Verhältnis des guten Gottes zum guten Menschen in den Mittelpunkt stellt. Entscheidend ist danach das Erlebte vor dem Bruch, nicht die entbehrungsreichen Folgen danach.
Unterschiedliche Gemälde von Adam und Eva, darunter von berühmten Künstlern wie Albrecht Dürer und Lucas Cranach angefertigte, geben einen Einblick in die Vielfalt künstlerischer Verarbeitung des Schöpfungsberichts. Darüber hinaus thematisiert die Präsentation die Weichenstellung, die jener böse Bube vollzogen hat, der weithin als theologischer Lehrmeister aller christlichen Lustfeindschaft gesehen wird: der Kirchenvater Aurelius Augustinus. In dessen Biographie erkennt man wie bei nur wenigen herausragenden Vertretern des Glaubens die Ambivalenzen von überbordender Lustanfechtung und Lustfeindschaft.
Der so wirkmächtige Bischof von Hippo verlegte im frühen 5. Jahrhundert die Weitergabe der Erbsünde in den biologischen Geschlechtsakt. Vergleicht man diese Interpretation aber mit verschiedenen rigoristischen Strömungen, welche die Geschichte des frühen Christentums stark geprägt haben, so erkennt man eher eine Abschwächung pessimistischer Sicht- und Lebensweisen. In solchen endzeitlich ausgerichteten Zirkeln waren Aufforderungen zu Gebär- und Sexualstreiks nichts Ungewöhnliches. Die heidnische Umgebung empörte sich, nach Aussage mancher Quellen, über derartige Weisungen. Augustinus erachtete hingegen Sexualität, die auf die Zeugung von Nachkommenschaft ausgerichtet ist, als legitim, kommt es doch auf diese Weise zur Domestizierung der Konkupiszenz, der Neigung zur Sünde. Entsprechende Ratschläge finden sich auch beim Apostel Paulus.
Hintergründe der Mißbrauchsskandale
Wenn Künstler (auch unter christlichen Voraussetzungen) mehr oder weniger ungehemmte Ausschweifungen darstellen wollten, konnten sie besonders auf griechisch-römisches Anschauungsmaterial zurückgreifen. Antike Götter waren in puncto sexueller Aktivität kaum zu überbieten. Die Überlieferungen des Mythos erlaubten die künstlerische Übertragung in die jeweilige Gegenwart, mithin ein erfrischendes Hantieren mit Masken. Die in Pompeji gefundene hellenistische Skulptur „Pan lehrt Daphnis das Flötenspiel“ schlägt, ob gewollt oder nicht, einen Bogen zur derzeit fast omnipräsenten Problematik des sexuellen Mißbrauchs. Dieser war stets gegenwärtig, so unterschiedlich er in diversen Epochen auch verstanden wurde.
Die aufarbeitungspädagogischen Motive der Ausstellung sind mit Händen zu greifen. Der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx, Schirmherr der Schau, verweist im Geleitwort des Ausstellungsbandes auf einige Hintergründe der Mißbrauchsskandale, vornehmlich Machtanmaßung und Klerikalismus. Zudem sollte künftig in der Erziehung darauf geachtet werden, die positiven Seiten von Sexualität stärker zu beachten.
Es ist freilich unklar, ob die Hintergründe der Einflußnahme von kirchlicher Sexualdoktrin auf künstlerische Arbeiten in der Vergangenheit aussagekräftig genug für heute dienliche Schlußfolgerungen sind. Jedoch bleibt zu hoffen, daß durch eine solche Schau eine Gesprächsdynamik in Gang gesetzt wird, die Betroffenen hilft, mit ihrer Situation umzugehen. Die Ausstellung bemüht sich, nicht nur in dieser Richtung Maßstäbe zu setzen. Hervorzuheben ist die Qualität des zweibändigen opulenten Begleitkatalogs.
Die Ausstellung „Verdammte Lust! Kirche. Körper. Kunst“ ist bis zum 2. Juli 2023 im Diözesanmuseum Freising, Domberg 21, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Der Eintritt kostet 8 Euro (ermäßigt 6 Euro).
Begleitend dazu gibt es einen Katalog mit 454 Seiten und 214 farbigen Abbildungen sowie einen Essay-Band mit 216 Seiten und 63 Abbildungen in Farbe. Beide zusammen kosten 80 Euro.