Wahrscheinlich hat jeder diese durchaus bittere Erfahrung schon einmal gemacht: Da ist dieser Freund aus Kinder- oder Jugendtagen, mit dem man sich damals so blendend verstand, und heute hat diese Person im eigenen Leben überhaupt keine Bedeutung mehr. Man hat sich aus den Augen verloren, sich in entgegengesetzte Richtungen entwickelt, komplett zerstritten oder einfach nur entfremdet.
Die Geschichte einer solchen Freundschaft erzählt Regisseur Mario Martone in „Nostalgia“. Auf Felice Lasco (Pierfrancesco Favino) und Oreste Spasiano (Tommaso Ragno) trifft beides zu: das schicksalhafte Aus-den-Augen-Verlieren und eine Entfremdung, wie sie totaler nicht sein könnte. Die wie eine klassische Tragödie aufgebaute italienisch-französische Koproduktion ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Ermanno Rea, eines Schriftstellers aus Neapel, der 2016 verstarb.
Die alte Heimat übt einen Reiz aus, der zum Bleiben zwingt
Bei der Freundschaft, die in „Nostalgia“ spektakulär und irreparabel in die Brüche geht beziehungsweise vor vielen Jahren in die Brüche gegangen ist, handelt es sich um die zweier Draufgänger, die als Fünfzehnjährige auf dem ersten eigenen Moped über alle Pisten von Neapel bügelten und sich dem kriminellen Milieu der Camorra-Stadt nicht zu entziehen wußten. Als junger Mann wanderte Felice dann in die arabische Welt aus und würdigte seine Heimatstadt vierzig Jahre lang keines Besuches mehr.
Minutiös folgt der Regisseur seiner Hauptfigur Felice bei deren Rückkehr nach Neapel, wo dieser seine pflegebedürftig gewordene Mutter nicht mehr in der vertrauten Wohnung vorfindet. Erstmals fällt in diesem Zusammenhang, wie zufällig fallengelassen, der Name Oreste. Der habe ihr die alte Wohnung abgekauft, erfährt der besorgte Sohn von der Mutter.
Langsam entdeckt der im Ausland zu Vermögen und Ansehen Gekommene die Stadt wieder neu für sich. Manches hat sich nicht geändert. Rockerbanden terrorisieren wie damals das Stadtviertel Sanità, in dem Felice und Oreste einst selbst zu den Unruhestiftern gehörten. Der sozial engagierte Pfarrer Luigi (Francesco Di Leva) beeindruckt Felice mit seinen öffentlichen Predigten, die mutige Philippiken gegen die Camorra sind. Auch Raffaele (Nello Mascia), ein alter Freund der Mutter, den der Rückkehrer nicht wiedererkennt, gehört zu seinen neuen Bekannten. Alle haben eines gemeinsam: Sie warnen vor Oreste, der ein Verbrecherboß geworden ist und den in der Gegend alle nur „Malommo“, den Bösen, nennen; sie beschwören den Mittfünfziger, die Stadt so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Auch Oreste schickt eine symbolische Warnung: Er läßt Felices Motorrad in Flammen aufgehen. „Geh in dein Land“, fordert ihn Raffaele auf. „Das ist mein Land“, erwidert Felice. Die alte Heimat übt einen unerklärlichen, fast übernatürlichen Sog auf ihn aus, der ihn zum Bleiben zwingt. „Du wirst wohl nostalgisch“, scherzt am Telefon seine Frau (Sofia Essaïdi), die in Kairo in einem Krankenhaus arbeitet, aber ohne Zögern bereit ist, ihrem Mann nach Italien zu folgen, um dort gemeinsam ein neues Leben aufzubauen.
Schließlich begegnen sich die einstigen Freunde. Es ist ein Treffen mit gravierenden Folgen für beide. Oreste wird Teil von Felices Geschichte und Felice Teil seiner. So deutet der alte, bereits ergraute Freund etwas geheimnisvoll das unerwartete Wiedersehen. Fraglich, wer aus dem Labyrinth der fremden Geschichte als erster wieder herausfindet – und wie.
In düsteren, unheilschwangeren Bildern, die wie auch die Thematik an „Im Vorhof zur Hölle“ (1990) mit Sean Penn erinnern, erzählt Mario Martone von Verbrechen, Verhängnis, Schuld und Sühne. Eine gewichtige Rolle spielt der im ärmeren Süden Italiens noch stärker gepflegte katholische Glaube, verkörpert durch Pater Luigi, dem Felice, obwohl in seinem arabischsprachigen Exil zum Moslem geworden, das dunkle Geheimnis anvertraut, das ihn auf fatale und unlösbare Weise mit Oreste verbindet.
„Nostalgia“ ist ein beklemmendes Drama mit verstörendem Ausgang, das wegen seiner gemächlichen, auf vordergründige Effekte zugunsten feiner Details verzichtenden Erzählweise Freunde des Action-Genres nicht zufriedenstellen kann und natürlich auch nicht an die orchestrale Opulenz von „Der Pate“, der Mutter aller Gangsterfilme, heranreicht. Dafür vermittelt die italienische Einreichung für die diesjährigen Oscars einen bleibenden Eindruck von Neapel, einer Stadt zwischen Meer und Moloch, Hoffen und Bangen, Sehnsucht und Verzweiflung – all dem, was Filmheld Felice stellvertretend durchlebt.