© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/23 / 09. Juni 2023

Digitale Überwachung
Schöne neue Welt: Gegenwartsromane eröffnen Perspektiven auf ein düsteres technisches Zeitalter
Oliver Busch

Die vom neuen Medium Film bewirkte Veränderung der Wirklichkeitswahrnehmung, so stellte Bertolt Brecht lakonisch 1930 fest, sei nicht mehr rückgängig zu machen. Der durch den Filmkonsum konditionierte Kinogänger lese Literatur daher „anders“. Wie auch der Schriftsteller als „Filmseher“ seine Geschichten anders schreibe, der „Technifizierung der literarischen Produktion“ gehorchend.

Fast hundert Jahre später treibt nicht mehr ein einzelnes Medium wie der Film die Umwälzung der Seh- und Lesegewohnheiten voran, sondern digitale Technologien revolutionieren alle Lebensbereiche. In dem Maße, wie sie expandieren, prägen digitale Praktiken heute das kulturelle, soziale und kommunikative Miteinander – „handlungsleitend und gesellschaftsformend“ (Felix Stalder, „Kultur der Digitalität“, 2016).

Wie tiefgreifend das menschliche Denken und Handeln inzwischen vom Digitalen durchdrungen ist, versucht das Themenheft „Digitalität im Gegenwartsroman“ der Zeitschrift Der Deutschunterricht (2/2023) zu dokumentieren. Verstehe man „Literatur als Frühwarnsystem“, da sich Stimmungen und Gefühle eines kollektiven Mentalitätswandels stets rasch in literarischen Texten niederschlagen, so biete sich dem Deutschunterricht hier ein großes, hochaktuelles Potential, um Schüler zum kritischen Nachdenken über Prozesse anzuregen, die unmittelbar mit ihren Lebenswelten und ihrer Identitätsentfaltung verbunden sind.

Schüler sollen über eine Zukunft mit Androiden reflektieren

Das Spektrum der Beiträge reicht vom „literarischen Lernen“, das anhand von Jugendromanen den streßfreien Umgang mit „Hate Speech“ im Netz trainiert, über die Präsentation von Computerspielliteratur, die deren Bedeutung für die Leseförderung sowie die Ausbildung von „Fiktionalitätsbewußtsein und Textverstehenskompetenz“ hervorhebt, bis zur Analyse von „KI. Freundschaft vorprogrammiert“ (2020), einem Tagebuch-Roman der britischen Schriftstellerin Monica M. Vaughan. Letzterer bespielt Problemfelder, wie sie für Adoleszenzromane typisch sind, nur daß hier der eine Pubertierende ein Mensch, der andere eine Maschine, ein Kinderandroid ist. Der offene Schluß des Romans gibt nach Auffassung der Didaktik-Professorin Petra Anders (HU Berlin) Schülern die Chance, über eine Zukunft mit Androiden und darüber zu reflektieren, ob Künstliche Intelligenz die Erreichung der UN-Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Menschheit eher unterstützt oder hemmt. Und darüber ins Gespräch zu kommen, ob die erzählte Fiktion sich in Richtung Utopie oder Dystopie fortschreiben ließe.

Eine Frage, die sich bei jenen Romanen von selbst beantwortet, die allein für die Behandlung der Oberstufe empfohlen werden: Dave Eggers’ „Der Circle“ (deutsch 2014) und „Every“ (2021) sowie Andreas Eschbachs „NSA“ (2018). Beide Bestseller-Produzenten, der auch mit Anti-Trump-Tiraden bekannt gewordene US-Amerikaner Eggers, Jahrgang 1970, und der zur ersten Garnitur europäischer Science-fiction-Autoren zählende Deutsche Eschbach, Jahrgang 1959, eröffnen an George Orwells „1984“ andockende pechschwarze Perspektiven für eine digitale Zukunft, für die sie, im Jargon ihrer Generation, keinen passenderen Begriff als „faschistisch“ finden.

Was „Circle“ und „Every“ nach Ansicht der Kölner Germanisten Andre Kagelmann und Andreas Seidler so interessant für die schulische Auseinandersetzung macht, ist die Mischung aus leicht lesbarem Stil, aufklärerischem Impetus im Zeichen „digitaler Ethik“, hohem zeitdiagnostischem Reflexionsniveau und dystopisch-satirischem Witz. Beide Romane erzählen, trotz weit auseinanderliegender Erscheinungstermine, eine zusammenhängende Geschichte aus dem Innenleben von zwei nach dem Vorbild von Google, Microsoft & Co. gestalteten Internetkonzernen. Die als digitale Kraken, unter ritueller „philanthropischer“ Beteuerung, die Welt zu einem besseren Ort machen zu wollen, Wissen über Menschen ansammeln, um sie zu beherrschen. In beiden Romanen spitze Eggers Befürchtungen bezüglich des „digitalen Kapitalismus“ mit dem Mut zur Kolportage zu, um den naiven Glauben an die „digitale Weltverbesserung“ zu zerstören, jenen von den führenden IT-Konzernen geschaffenen „Mythos von Silicon Valley“, der verbergen soll, was sie tatsächlich antreibt: maximal menschenfeindliche Profit- und Machtgier.

Am Beispiel der „Circle“-Hauptfigur Mae Holland, die als Mitglied der „materialistischen Sekte“ ihrer „Konzernfamilie“ von ganz unten in die Chefetage aufsteigt, schildert Eggers, wie hinter dem Flitter diffuser Menschenrechtsrhetorik die Allmachtphantasie von totaler Überwachung ins Werk gesetzt wird. Maximen folgend wie „Alles, was passiert, muß bekannt sein“ und „Alles Private ist Diebstahl“, die sich an demnächst wohl das Parteilogo der Grünen zierende 1984er-Sprüche wie „Unwissenheit ist Stärke“ und „Freiheit ist Sklaverei“ kongenial anlehnen, installiert „Circle“ unter Hollands Ägide das Kamerasystem „SeeChange“.

Der beängstigende ideologische Clou liegt in Eggers’ Komposition darin, daß die dadurch ermöglichte Totalüberwachung nicht wie bei Orwell mit massiver Gewalt einhergeht. Vielmehr stößt „SeeChange“ auf breite Akzeptanz, da das Gros der Bevölkerung und die politische Kaste mit Hilfe der Wunderkamera ein „transparentes Leben“ zu führen wünschen.

Eine solche Unterwerfungsbereitschaft inspiriert die in „Every“ dann als Konzernchefin agierende Digital-Visionärin Holland, die Produktpalette ihres Unternehmens etwa um die Sprachbereinigungssoftware „TruVoice“ („Wer würde sich im Sinne der Political Correctness nicht gern zensieren lassen“) und die App „SumNum“ zu erweitern, die Wert oder Unwert eines Menschen nach seinem Sozialverhalten berechnet. Als Krönung ihres Sortiments schwebt Holland schließlich ein Programm vor, das nach dem Motto „Geheimnisse sind Lügen“ flächendeckende „Gedankentransparenz“ generiert. 

Während Eggers in eine schauerliche Zukunft verlängert, was für ihn in der Gegenwart unübersehbar angelegt ist, inszeniert Eschbachs von Stefan Tetzlaff (Göttingen) interpretierter „NSA“-Roman eine ahistorische Rückspiegelung der gegenwärtigen digitalen Kultur auf die NS-Zeit. Das titelgebende „Nationale Sicherheits-Amt“, dessen Kürzel nicht zufällig Assoziationen mit der National Security Agency weckt, dem weltweit operierenden, 40.000 Mitarbeiter beschäftigenden US-Auslandsgeheimdienst, wird bei Eschbach schon in der Weimarer Republik aufgebaut und 1933 in den Machtapparat des Reichsführers SS Heinrich Himmler integriert.

Zentrales Herrschaftsmittel des NSA ist das von jedermann benutzte Handy, zeitgemäß „Volkstelefon“ („Votel“) genannt. Elektronisches Bezahlen – das Bargeld ist sofort nach der „Machtergreifung“ abgeschafft worden –, die Kommunikation im Internet („Weltnetz“) mittels „Elektrobrief“ (E-Mail) und der komplette Austausch in sozialen Netzwerken finden ausschließlich über das Votel statt. Aus der automatisierten Analyse der dort abgefischten Datenmengen, den daraus erstellten Bewegungsbildern und Persönlichkeitsprofilen, erwächst die Macht des Amtes. So wird die „Weiße Rose“ 1943 nicht beim Verteilen von Flugblättern erwischt, sondern per Votel-Ortung entdeckt. Genauso verhindert das NSA Georg Elsers Sprengstoffattentat auf Adolf Hitler, 1939 im Münchner Bürgerbräukeller, mittels digitaler Überwachung, nachdem es dessen Verhaltensmuster als „unnormal“ eingestuft hat. Doch selbst dieser Perfektionismus wirkt bescheiden im Vergleich mit dem ultimativen Triumph des Amtes, das per digitaler Spionage die zum Bau der Atombombe erforderlichen Daten beschafft, deren Einsatz die Anti-Hitler-Koalition zur Kapitulation zwingt.

In „NSA“, so resümiert Tetzlaff, führt Eschbach „keine einzige Überwachungsphantasie vor, die von der Gegenwart nicht übertroffen würde“. Schon heute habe ein Datenhändler wie Acxiom für mehr als die Hälfte der Erwachsenen in den USA und Deutschland im Schnitt 1.500 Einzelinformationen parat. Damit ließen sich überwachungskapitalistische, postdemokratische Szenarien realisieren, die dem Social-Credit-System des kommunistischen China in nichts nachstünden. Nicht zuletzt Bestrebungen der Brüsseler Kommission, eine lebenslang gültige „Digital Identity Wallet“ für alle EU-Bürger einzuführen, trage nach dem „Tsunami-Modell“ des kulturell-medialen Wandels also dazu bei, daß unter der Wasseroberfläche noch freiheitlich-demokratischer Gesellschaften die Druckwelle eines Tsunamis der digitalen Revolution erzeugt werde.