© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/23 / 09. Juni 2023

Im öffentlichen Diskurs soll allein Vernunft herrschen
Plädoyers für beschränkte Rationalität
(dg)

In der so bildungsfernen wie medial einflußreichen Szene jener Promille-Minderheiten, die witzigerweise von sich behaupten, besonders wach (woke) zu sein, wird gegenwärtig diskutiert, ob der öffentliche Diskurs nicht unzulässig all jene Diskursformen ausgrenze, die sich wissenschaftlicher Rationalität, also dem begründenden Denken „nicht beugen“ wollen. So werde die politische Kultur durch die „Akademisierung öffentlicher Debatten“ beschädigt, weil die privilegierte bildungsbürgerliche Elite darüber entscheide, welche Diskurse zugelassen würden und welche nicht. Daß Öffentlichkeit durch Macht bestimmt werde, wendet der Bonner Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin gegen diesen neuerlichen Vorstoß von erklärten Wissenschaftsfeinden ein, ist spätestens seit Karl Marx („Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse“) eine Binsenweisheit (Forschung & Lehre, 3/2023). Ebenso bekannt sollte sein, daß finanzstarke private und öffentlich-rechtlich bestellte Regulatoren des Zugangs zur Öffentlichkeit überwiegend nicht in der Wissenschaft und im Bildungsbürgertum zu suchen sind. Das Plädoyer für die Beschränkung Rationalität sei aber schon deshalb pure woke Demagogie, weil nicht einmal scheinbar nicht-wissenschaftliche Alternativen des Erkenntnisgewinns wie Kunst und Religion sich der Hegemonie wissenschaftlicher Rationalität verweigern. Denn was als Kunst gelte und was an Religion zugelassen sei, werde ausschließlich vernünftig bestimmt. Sonst gebe es keinen Grund, die Morddrohungen gegen den islamkritischen Schriftsteller Salman Rushdie aus dem Diskurs auszuschließen. 


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