Traditionen sind in der Bundeswehr ein heikles Thema. Alles, was zeitlich über das Gründungsjahr der Bundeswehr hinausgeht, wird mit Argwohn betrachtet und läuft – wenn überhaupt – weitgehend „unter dem Radar“ der Öffentlichkeit. Wie sehr sich die Truppe danach sehnt, den Bogen weiter zu spannen und militärische Traditionslinien auch in vergangene Jahrhunderte zu ziehen, zeigt das Jubiläum 175 Jahre Deutsche Marine, das in diesem Jahr begangen wird.
Viel Zeit für einen Rückblick auf die Anfänge der gesamtdeutschen Marinegeschichte im Revolutionsjahr 1848 bleibt der Führungsspitze der Seestreitkräfte um Marineinspekteur Vizeadmiral Jan Christian Kaack in der „Marinehauptstadt“ Rostock jedoch nicht. Denn auch die Marine steht vor der Herausforderung, die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ausgerufene Zeitenwende umzusetzen.
Wohin die Reise künftig gehen soll, hat der Inspekteur in dem im März bekanntgewordenen „Zielbild für die Marine ab 2035“ festgelegt. Mit der Zukunftsplanung, die auf den russischen Angriff auf die Ukraine und die damit veränderte Bedrohungslage insbesondere in der Ostsee reagiert, kündigt sich demnach auch ein technologischer Einschnitt für die deutsche Marine an. „Die Marine muß bereit für intensive Gefechte werden, eine Vielzahl unbemannter Systeme anschaffen und Künstliche Intelligenz insbesondere für die Lagebildführung und -auswertung nutzen“, heißt es dazu noch etwas vage in dem Papier.
Mit anderen Worten: Künftig sollen nicht nur die Zahl der einsatzfähigen „schweren“ Einheiten wie Fregatten, Korvetten oder U-Boote über die Abwehrbereitschaft und die Schlagkraft der Marine entscheiden, sondern auch eine Vielzahl neuartiger kleinerer Über- und Unterwassereinheiten, die perspektivisch auch autonom operieren werden. Einen Vorgeschmack auf diesen zukünftigen Drohnen-Krieg zur See haben in den vergangenen Monaten die Angriffe ferngelenkter ukrainischer Kampfboote auf Einheiten der russischen Schwarzmeerflotte gegeben. Doch werden diese unbemannten Systeme nicht nur zum Kampf, sondern auch für eine bessere Aufklärung, etwa beim Schutz kritischer Infrastruktur auf dem Meeresboden benötigt, wie der Angriff auf die Nordstream-Ostseepipelines gezeigt haben.
Doch auch bei den klassischen Kriegsschiffen besteht Handlungs- und Modernisierungsbedarf. Unter dem Schlagwort „Mass matters“ (Masse zählt) soll die Marine auf einen möglichen Abnutzungskrieg in der Landes- und Bündnisverteidigung vorbereitet werden. „Das heißt: konsequentes Umsetzen des Faktors 3 bei der Anzahl der erforderlichen Seekriegsmittel (1/3 in der Instandhaltung, 1/3 in voller Gefechtsbereitschaft, 1/3 in abgestufter Gefechtsbereitschaft)“ lautet das Konzept der Marineführung. Ein möglicher zahlenmäßiger Aufwuchs der Überwasserstreitkräfte ist in den bisherigen Planungen indes noch nicht abzulesen.
Der Wunderwaffe Drohne soll mehr Beachtung geschenkt werden
Sowohl bei den bisherigen, bis 2031 ausgelegten Planungen als auch beim neuen Zielbild für 2035 plant die Marineführung mit 15 Fregatten, die Zahl der Korvetten könnte demnach sogar von zehn auf sechs bis neun reduziert werden.
Bei der Verbesserung der Infrastruktur ist die Marine hingegen bereits einen wichtigen Schritt vorangekommen. Im Januar wurde in Rostock ein Marinearsenal eingeweiht, in dem künftig Schiffe versorgt und instand gesetzt werden können. Damit wird die Einsatzfähigkeit der Marine in der wieder wichtiger gewordenen Ostsee gestärkt und gleichzeitig das Marinearsenal am Hauptstandort Wilhelmshaven entlastet.
Wie die anderen Teilstreitkräfte kämpft auch die Marine mit den Untiefen des Beschaffungswesens. Immer wieder haben sich in den vergangenen Jahren maritime Rüstungsprojekte verzögert und kämpften mit Kinderkrankheiten. Aktuell leidet die gerade in Dienst gestellte neueste Korvette mit dem Traditionsnamen Emden mit schwerwiegenden IT-Problemen, durch die sich die Einsatzfähigkeit des Schiffes auf unbestimmte Zeit verschiebt. „Wir müssen auch mal Dinge von der Stange kaufen und nicht nach Goldrandlösungen suchen. Alle waren an diesen Goldrandlösungen beteiligt, auch die Marine“, sagte Kaack selbstkritisch dem NDR.
Den Plänen, die Marine wieder schlagkräftiger zu machen, sind abseits von der Frage der Finanzierung ganz natürliche Grenzen gesetzt: Denn auch die Seestreitkräfte sind von der Schwierigkeit der Bundeswehr, ausreichend Nachwuchs zu rekrutieren, nicht ausgenommen. Für Kaack ist die Personalgewinnung denn auch eine der größten Herausforderungen in den kommenden Jahren. „Gute Leute muß man haben“, sagte Kaack im Januar bei einem Vortrag an der Universität der Bundeswehr in München.
Denn er weiß: Die modernsten Fregatten und U-Boote haben keinen Wert, wenn es an der Besatzung fehlt. Die Personalwerbung für die Marine müsse daher verstärkt werden. Dies beinhalte auch die Social-Media-Aktivitäten: „Wir müssen Menschen für das Abenteuer Marine begeistern.“ Um den Personalbedarf künftig zu decken, sieht der Inspekteur sogar die Öffnung der Bundeswehr für EU-Bürger als eine Möglichkeit an.
Gedenkveranstaltung
Am 14. Juni 2023 feiert die Marine unter dem Motto „175 Jahre Deutsche Marinen“am Wilhelmshavener Bontekai Geburtstag. Es beginnt mit einem CrossFit-Wettkampf mit Soldaten und Bürgern (9.30 bis 11.30 Uhr), es folgt ein Gedenkgottesdienst in der Christus- und Garnisonkirche (10 bis 11 Uhr). Von 12.45 bis 18 Uhr gibt es „Marine zum Anfassen“ an Bord der Fregatte Hamburg und auf dem Bontekai. Abschluß der Veranstaltung ist ein Konzert des Marinemusikkorps Wilhelmshaven (18.30 bis 20 Uhr).