Sinkende Energiekosten sind des einen Freud, des anderen Leid: Eon senkt die Strom- und Gaspreise, der schwache Rohölpreis hält die Heizölpreise in Schach – gut für alle, die nicht auf Gas umgestellt haben. Doch die Scheichs ärgern sich. Und die Mitglieder der saudischen Königsfamilie brauchen einen Ölpreis von 80 Dollar pro Barrel (159 Liter), um den Haushalt des 38,4-Millionen-Einwohner-Landes auszugleichen. In diesem Jahr lag er nur im Januar und April ein paar Tage lang über dieser Marke. Kurz vor dem Wiener Gipfel der Organisation erdölexportierender Länder und ihrer Kooperationspartner wie Rußland und Mexiko (OPEC+) lag der Faßpreis deutlich unter 70 Dollar.
Prinz Abdulaziz, Energieminister von Saudi-Arabien, ließ beim vorherigen Treffen der OPEC+ in Wien mehrere große Medienhäuser ausschließen, die seine Ansichten zum Ölmarkt nicht wiedergegeben hätten und damit für den Preisverfall mitverantwortlich wären. Denn der Halbbruder des saudischen Kronprinzen wird nicht müde, auf die für Öl eigentlich äußerst günstige Dynamik hinzuweisen: der Verbrauch steigt weltweit stetig und liegt inzwischen ein paar Prozent höher als vor Corona, aber die konventionelle Förderung stagniert (JF 45/21). Nur durch Fracking in den USA konnte im vergangenen Jahrzehnt die steigende Nachfrage gedeckt werden, aber auch dort zeichnet sich eine Erschöpfung der Reserven ab. Dazu kommen Kürzungen der Produktion durch die OPEC. Eigentlich deutet das Umfeld auf rapide steigende Energie- und Ölpreise hin.
Rezessionsängste in den westlichen Industrienationen
Niemand bestreitet die strukturelle Diskrepanz zwischen Förderkapazitäten und Verbrauch. Doch derzeit sind viele auf die trüben Aussichten für den Verbrauch fokussiert. Da ist zuerst der erwartete Wirtschaftsaufschwung Chinas nach Ende der Covidbeschränkungen, der ausbleibt. Das hat nicht nur auf den Energiemarkt Auswirkungen, sondern auf alle Rohstoffe insgesamt. Kupfer gilt als Rezessionsbarometer. Und Rezessionsängste sind in den westlichen Industrienationen verbreitet. Deutschland steckt offiziell in einer Rezession. Die Experten, die noch vor ein paar Monaten hofften, eine Rezession könne vermieden werden, sind jetzt seltsam ruhig. Die USA stecken noch nicht in einer Rezession, der Arbeitsmarkt ist unerwartet stark, doch die Alarmzeichen häufen sich. Der weltgrößte Einzelhändler Walmart konnte seinen Umsatz nur steigern, weil zunehmend höhere Einkommensschichten bei ihm ihre Lebensmittel einkaufen.
Rußland ist erstmals seit der Ukraineinvasion ein Akteur, der den Ölpreis drückt. Der Ölpreisdeckel erweist sich als weitgehend wirkungslos, das russische Rohöl fließt nach Indien, China und in die Türkei (JF 50/22). Rußland hatte OPEC+ eine Senkung seiner Ölförderung um 500.000 Barrel pro Tag versprochen. Allerdings hat Moskau die Veröffentlichung seiner Förderdaten eingestellt, was als Zeichen gewertet wird, daß es seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Schummeleien bei OPEC-Quoten sind ein altes Problem.
Doch es ist weder die schwache Wirtschaft noch die langfristig problematische Angebotsdynamik, die den Ölpreis niedrig hält. Es ist ein kurzfristiges Überangebot. Die Nicht-OPEC-Länder USA, Kanada, Brasilien und Guyana, der Neuzugang unter den Ölförderländern, das in nur sieben Jahren auf Platz 17 der größten Ölproduzenten aufstieg, haben ihre Förderung stark erhöht. Dies geht aus den Zahlen der Internationalen Energiebehörde (IEA) hervor. Es ist in erster Linie diese Ausweitung des Angebots, die den Ölpreis niedrig hält, nicht die Aussicht einer sich verschärfenden Rezession.
Diese Überlegungen dürften auch Hedgefonds und andere Spekulanten anstellen, die so stark auf einen fallenden Ölpreis setzen wie zuletzt 2011. Prinz Abdulaziz warnte Leerverkäufer von Ölderivaten zu Beginn des OPEC-Gipfels, sie würden ein „Autsch“-Erlebnis haben: Wer die 80-Dollar-Schmerzgrenze der Saudis ignoriert, wird Schmerzen erleiden. Durch das Zusammenwirken all dieser Faktoren erfreuen sich die Verbraucher derzeit günstiger Energiepreise. Doch die Freude dürfte nicht lange währen.
Hohe Lagerbestände können die Förderkürzungen kurz abfedern
Die OPEC kürzte ihre Quoten um zwei Millionen Faß pro Tag im Oktober, dann weitere 1,2 Millionen Faß im April, um den Ölpreis anzuheben. Die April-Beschränkungen traten aber erst in der zweiten Maiwoche in Kraft und waren deshalb bisher kaum wahrzunehmen. Nach dem Gipfel wird Saudi-Arabien nochmals die Förderung um eine Million Barrel senken. Auch das wird sich erst mit Verzögerung auswirken. Dazu kommt, daß Lagerbestände derzeit hoch sind und Förderkürzungen zumindest kurzfristig abfedern können.
Daß die OPEC eine 80-Dollar-Untergrenze anpeilt, ist schon länger bekannt. Die Förderquoten vom April und die freiwillige Beschränkung bestätigen, daß das Kartell eingreift, wenn der Preis zu lange zu niedrig liegt. Anders als in der Vergangenheit halten sich inzwischen die meisten Mitglieder an die Vereinbarungen. In dieser Hinsicht ist die prekäre Lage der afrikanischen OPEC-Mitglieder gut für die Scheichs: die können wegen jahrelanger Unterinvestitionen ihre Quoten nicht erfüllen, geschweige denn überschreiten.
Es bleibt also die Frage, wie stark eine eventuelle Rezession in den USA sich auf den Ölverbrauch auswirken wird und ob die Kürzungen der Quoten ausreichen, einen solchen Rückgang auszugleichen. Aber auch ein Rückgang in den USA könnte ohne Auswirkungen bleiben, wenn in China die Wirtschaft an Fahrt gewinnt. Die Aussichten auf eine andauernde Schwäche des Ölpreises sind also nicht gut. Die Risiken eines starken Preisanstiegs überwiegen. Wer Öl verbraucht, egal ob zur Heizung des Einfamilienhauses oder im industriellen Maßstab, ist gut beraten, zuzugreifen, solange der Preis unter der 80-Dollar-Schmerzgrenze der Saudis liegt.
Organisation erdölexportierender Länder (OPEC)
Die 1960 gegründete Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) hat derzeit 13 Mitglieder: Algerien, Angola, Äquatorialguinea, Gabun, Iran, Irak, die Republik Kongo, Kuwait, Libyen, Nigeria, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Venezuela. Ihr Anteil an der Weltölförderung lag im April 2023 bei 28,2 Prozent. Obwohl das meiste davon exportiert wird, ist es zu wenig für ein globales Kartell. Daher wurde 2016 eine Marktkooperation mit weiteren Ölländern vereinbart (OPEC+). Dazu gehören zehn Staaten: Aserbaidschan, Bahrain, Brunei, Kasachstan, Malaysia, Mexiko, Oman, Rußland, Südsudan und Sudan. Zusammen mit den Ex-OPEC-Mitgliedern Ecuador, Indonesien und Katar kommen diese Länder auf weit mehr als die Hälfte der Weltförderung. Die USA sind mit etwa 18 Prozent zwar der größte Einzelproduzent, doch die Nettoölexporte sind – anders als beim Erdgas – nicht marktrelevant. Saudi-Arabien und Rußland kommen auf je zwölf Prozent der Förderung. (fis)
Monatlicher Erdölmarktbericht der OPEC: momr.opec.org