Der große Gewinner der Parlamentswahl in Montenegro dürfte die Partei von Präsident Jakov Milatovic werden. Aktuellen Umfragen zufolge werden am 11. Juni 31,6 Prozent der Wahlberechtigten „Europa jetzt!“ (Evropa Sad!/ES) ihre Stimme geben, was einem Plus von 31,6 Prozent gegenüber der Wahl vom 30. August 2020 entspricht, denn damals gab es die Partei noch gar nicht. Während der Wahlsieger also schon festzustehen scheint, wird gerätselt, mit wem die ES eine Koalition eingehen könnte. Stimmen die Prognosen, können die ES-Politiker zwischen einem Zweierbündnis mit der Demokratischen Partei der Sozialisten in Montenegro (Demokratska partija socijalista Crne Gore/DPS), aktuell mit 30 von 81 Abgeordneten im Parlament vertreten, oder der ebenfalls neu gegründeten rechten, als prorussisch und proserbisch geltenden Demokratischen Front (Demokratski front/DF) wählen. Dieser werden 13,8 Prozent prognostiziert, während die als Mitte-links eingeordnete DPS aktuell bei 24,1 Prozent liegt. Diese ist allerdings die Partei des gerade abgewählten Präsidenten Milo Đukanović.
Auch Dreierkoalitionen aus ES, DPS und der grünen Ujedinjena reformska akcija (Vereinte Reformmaßnahmen/URA) oder ES, DPS und der als Mitte-rechts eingeordneten Bosniakischen Partei (Bošnjačka stranka/BS) wären möglich. Beide Parteien sind bereits im Parlament vertreten, liegen aktuell bei 4,7 (URA, -0,8 Prozent gegenüber 2020) beziehungsweise 4,4 (BS,+0.4) Prozent.
Wofür sich die ES entscheiden wird, ist für westliche Beobachter kaum abschätzbar, zumal diese sich noch immer schwertun, die erst im Frühjahr 2022 von Milatovic (stellv. Vorsitzender) und Milojko Spajic (Vorsitzender) gegründete Partei trotz des aus EU-Sicht hoffnungsvoll stimmenden Namens ins klassische Rechts-Mitte-Links-Spektrum einzuordnen. Meist wird ihr eine liberal-konservative Ausrichtung bescheinigt. Die Partei selbst bekennt sich bisher sowohl zum angestrebten EU-Beitritt als auch zu einer engen Anbindung Montenegros an Serbien.
Gespannt sind die westlichen Regierungen auch auf den künftigen Kurs, den die neue Regierung des 620.000 Einwohner zählenden kleinen Adria-Landes, in dem Montenegriner, Serben, Bosniaken, Albaner, Kroaten sowie Sinti und Roma leben, steuern wird. Die Parlamentswahlen werden der „eigentliche entscheidende Streßtest“ für den Vielvölkerstaat Montenegro, prophezeit das Länderbüro Serbien der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung.
In Brüssel tut man sich noch immer schwer mit der Wahlniederlage des als prowestlich geltenden, Langzeit-Präsidenten Milo Đukanović, der zwar als verantwortlich für die weitverbreitete Korruption, die starke Vernetzung der organisierten Kriminalität und die existierende gesellschaftliche Spaltung im Land verantwortlich gemacht wird, aber in seinen Verhandlungen mit der EU als zuverlässig galt, zumal er die frühere Teilrepublik Jugoslawiens 2006 in die Unabhängigkeit und 2017 in die Nato geführt hat. Mißtrauen erregte vor allem, daß der neue Präsident in der Stichwahl vom gesamten proserbischen Lager unterstützt worden war.
Đukanović vorletzte Amtshandlung, bevor er vom 36jährigen Ökonomen und Ex-Finanzminister Milatovic in der Stichwahl besiegt wurde und die Amtsgeschäfte niederlegte, war am 16. März dieses Jahres die Auflösung des proserbisch dominierten Parlaments, da der designierte Regierungschef Miodrag Lekić keine Mehrheit für sich organisierten konnte. Noch immer amtiert der bereits im August durch ein Mißtrauensvotum gestürzte Ministerpräsident Dritan Abazović an der Spitze eines geschäftsführenden Kabinetts.