© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/23 / 09. Juni 2023

Alles außer Gott
Evangelischer Kirchentag: Krise, Krieg und Klima – Jesus muß sich auch in Nürnberg wieder hinten anstellen
Gernot Facius

Fünf Tage, zweitausend Veranstaltungen: Diese Woche findet der 38. Deutsche Evangelische Kirchentag statt, diesmal zu Gast in der fränkischen Metropole Nürnberg. Das Leitwort: „Jetzt ist die Zeit“ verweist auf einen Vers aus dem Markus-Evangelium. Er lautet in voller Länge: „Jetzt ist die Zeit gekommen, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an die rettende Botschaft.“ Warum die Verknappung im Motto des Christentreffens, zu dem Bundespräsident und Bundeskanzler anreisen werden? Zu moralisch das eine, zu ideologisch das zweite, zu vollmundig das dritte, meint das christliche Magazin Publik Forum. Es geht um Krisen, Krieg und Klima. 

Eine „merkwürdige Gewichtung“ beklagt das evangelikale Magazin idea. Die Suche nach Veranstaltungen mit Jesus im Titel gleiche in dem 522seitigen Programmheft einer Suche nach der Nadel im Heuhaufen: „Veranstaltungen, die sich mit Jesus Christus und seiner Bedeutung für unser Leben befassen, sind ‘out’, Klimathemen, queere Perspektiven und Rassismus-Kritik sind ‘in’.“ 

Lebensschützer 

sind nicht vertreten

Über den Klimawandel und seine Folgen diskutiert die Aktivistin Luise Neubauer auf dem Podium unter dem Motto „Wenn Yoga und Tee nicht mehr helfen“. Vieles hat Festival-Charakter. Eine christliche Hip-Hop-Band spielt, Posaunen- und Gospelchöre treten auf, Jazz und Klassisches von Symphonieorchestern aus Nürnberg und Kiew, wird zu hören sein. Der Mediziner und Komiker Eckart von Hirschhausen hat sich eine musikalische „Klima-Entdeckungsreise“ ausgedacht. Und wie nicht anders zu erwarten bei solchen „Events“: In Arbeitskreisen wird die Bibel „quer gelesen“. Das Zentrum „Geschlechterwelten“ fragt: „Brauchen wir eine sexuelle Revolution?“ Ein Netzwerk „polyamorer“ Menschen stellt sich vor, und die transsexuelle Grünen-Politikerin Tessa Ganserer spricht über „geschlechtliche Selbstbestimmung“. Ein Workshop steht unter dem Thema „Jesus als Person of Color“, einer Lesung haben die Kirchentagsplaner den Titel „Jesus, die Milch ist alle! Was, wenn Jesus heute noch einmal auf die Welt käme?“ 

Dem scheidenden bayerischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm ist der Unmut über manches Detail des Kirchentagsprogramms nicht verborgen geblieben. Deshalb fordert er zum genauen Hinhören auf. Die Botschaft laute: „Daß wir uns nicht angeifern, daß wir nicht in unseren Internetblasen Extreme ins Zentrum rücken und Haß säen, sondern daß wir hinhören und aufeinander achten. Wenn ich gerne möchte, daß mir jemand zuhört, dann höre ich ihm auch zu.“ 

Das Christentreffen in Nürnberg fällt in eine Phase totaler Unsicherheit. „Wir leben in Zeiten erschütterter Gewißheiten“, hat Kirchentagspräsident Thomas de Maizière (CDU) gesagt. Deshalb setze man ein Zeichen der Hoffnung. „Wir wollen mit unserer christlichen Botschaft Hoffnungsträgerinnen und Hoffnungsträger sein.“ 3.000 Menschen in Chören und Posaunenchören sollen das demonstrieren. „Die sollen“, so de Maizière, „so singen und spielen, daß die Erde bebt.“ Damit ist allerdings die Frage nicht beantwortet, ob die Chöre die Dissonanzen übertönen können. 

Christlichen Lebensschützern wie etwa der Organisation „Aktion Lebensrecht für Alle“ (ALfA) hat man die Teilnahme und einen Stand auf dem „Markt der Möglichkeiten“ verwehrt. Die Ablehnung sei nicht aufgrund ihrer Themen, sondern „aufgrund ihres Verhaltens bei vergangenen Kirchentagen“ erfolgt, meinte die Pressesprecherin des Kirchentages, Milena Vanini, gegenüber idea, ohne auf nähere Details einzugehen.

 Kirchentagsgeneralsekretärin Kristin Jahn zeigt sich gleichwohl optimistisch: Sie spricht von einer einzigartigen Chance zum Dialog. „Wir versammeln Menschen aus unterschiedlichsten Perspektiven. Wir wagen die Kontroverse, klug, engagiert und fair.“ Man werde das Christentreffen am Ende daran messen, ob es wirklich gelungen sei, „die Meinungsblase aufzubrechen“, sagt de Maizière. 

Polarisierung in der Kirche ist keine neue Erkenntnis, aber diesmal soll alles vermieden werden, was die Polarisierung noch vorantreibt. Schnelle Antworten seien weniger wichtig als das gemeinsame Nachdenken, hört man allenthalben. „Bedrückend“ findet die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann, die dem Kirchentag diesmal fernbleibt, die Zahl der Kirchenaustritte. 2022 haben 380.000 Protestanten die Kirche verlassen, 33,8 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Immerhin soll die Abwendung von der Kirche in Nürnberg thematisiert werden. Es gehe „um die Zukunft des Glaubens“, bekräftigte de Maizière. Doch der Kirchentag versteht sich auch als „Testlabor für aktiven Umweltschutz“. Es sei jetzt dringlicher denn je, auf Artenvielfalt zu achten, Kohlendioxid einzusparen und sich Gedanken über „nachhaltige Verpflegung“ zu machen. 

Daß es bei der Kirchentagsplanung nicht immer harmonisch zuging, läßt sich den Worten des Vorsitzenden der Martin-Niemöller-Stiftung, Michael Karg, entnehmen. „Ein ernsthafter Dialog mit den auf zivile und gemeinsame Sicherheitspolitik orientierten Christinnen und Christen sei im Programm nicht wirklich vorgesehen“. Friedenspolitische Veranstaltungen, unter anderem mit Margot Käßmann, seien vom Trägerkreis des Treffens abgelehnt worden. Die Stiftung zielte mit ihrer Kritik auch auf Kirchentagspräsident de Maizière, der im Vorfeld gesagt hatte: „Panzerlieferungen an die Ukraine verlängern den Krieg, führen zu mehr Toten, aber helfen beim Kampf um die Freiheit und Souveränität der Ukraine. Der frühere Innen- und Verteidigungsminister sprach von den Ergebnissen einer „quälenden Abwägung.“ Auch ein „scheinbar einfaches moralisches ‘Nein’“ zur Waffenhilfe habe „ebenfalls bittere ethische und brutale politische Konsequenzen“. 

Gruppen wie die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden haben für Samstag eine Demonstration in der Nürnberger Innenstadt angekündigt. Dem Megathema Ukraine wird der Kirchentag nicht ausweichen können.





Was drin ist – und was nicht

Was unterscheidet die „Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters Deutschland“ von der AfD? Ganz einfach: Jene ist auf dem Kirchentag vertreten, diese nicht. Der 2021 bekräftigte Bann des Präsidiums („was ausgrenzt, hat auf dem Kirchentag nichts verloren“) bleibt bestehen. Die Mitbewerber im Bundestag sind dagegen vielfach präsent: mindestens dreimal die Linke, viermal die CDU, fünfmal die SPD, die FDP sechsmal, und mindestens neunmal tauchen die Grünen im Programm auf. Kein einziges Mal wird das Thema Lebensschutz erwähnt, dafür gibt es „Vulva reloaded – Ein starkes Stück für alle Geschlechter“. Außerdem im Angebot: „Queersensible Arbeit mit Konfirmand:innen“, „Go for Gender Justice – Pilgerweg für Geschlechtergerechtigkeit“, eine „Namenssegnungs-Feier für trans* und nicht-binäre Menschen“, „Hijab und Regenbogen – Warum Gender und sexuelle Vielfalt uns alle angehen“und ein Workshop „mit Trainingselementen“ zur Frage „Wie reagiere ich klug auf populistische Parolen?“ (vo)