Noch nie waren explizite sexuelle Inhalte so einfach und unbegrenzt verfügbar wie heute. Rund 30 Prozent des gesamten Internets bestehen aus Pornoseiten. Laut einer Statistik für das Jahr 2019 wurden allein auf dem Videodienst Pornhub 1,36 Millionen Stunden Material hochgeladen. Dieses wird nicht nur sehr rege, sondern mitunter auch erschreckend generationenübergreifend genutzt. Experten sprechen davon, daß Kinder im Schnitt bereits im Alter von elf Jahren ihren ersten Erwachsenenfilm sehen.
Das mag schockieren, kann aber kaum verwundern, besteht der Jugendschutz auf solchen Seiten, auf denen die Hardcore-Clips weitgehend gratis angeboten werden, doch allein darin, daß der Besucher durch einen einfachen Klick selbst bestätigt, daß er bereits volljährig ist. Insgesamt konsumiert fast die Hälfte aller Internetnutzer weltweit pornograhisches Bildmaterial. Bei Umfragen gaben 20 Prozent der Männer sogar zu, sich dieses am Arbeitsplatz anzuschauen. Große Boulevardmedien präsentieren ihren Lesern tagtäglich Geschichten aus dem Leben der beliebtesten Darstellerinnen. „Amateure“ sind kleine Z-Promis. Kurzum: Pornographie ist längst Mainstream, nahezu allgegenwärtig und für viele inzwischen fast schon Teil der allgemeinen Lebensart.
Mit dem Erfolg der Bewegung wuchs die Zahl der Kritiker
Ausgerechnet bei der jungen Generation hat sich in den vergangenen Jahren aber ein Anti-Trend zu der hypersexualisierten Gegenwartskultur entwickelt. „NoFap“ nennt sich die Bewegung, in der sich vor allem männliche Jugendliche freiwillig dazu verpflichten, sich beim Konsum von Pornographie sowie der Masturbation stark einzuschränken beziehungsweise gänzlich auf beides zu verzichten. Fap ist der englische Slangbegriff, der für die männliche Selbstbefriedigung steht. Entstanden ist das „Movement“ aus einer Forumsdiskussion auf der Internetseite Reddit. Dort eröffnete der damals 21jährige US-amerikanische Programmierer Alexander Rhodes im Jahr 2011 eine Debatte über eine chinesische Studie aus dem Jahr 2003, der zufolge es Anzeichen dafür gibt, daß der männliche Testosteronspiegel im Blut nach sieben Tagen Enthaltsamkeit auf bis zu 145,7 Prozent ansteigen könne.
Diese Behauptung stieß vor allem bei jungen Männern innerhalb der politischen Rechten, wo Testosteron und die damit verbundene Männlichkeit traditionell eine große Rolle spielen, auf hohes Interesse – auch weil in dem Milieu der liberal-hedonistische Lebensfokus auf die eigene schnelle Triebbefriedigung oftmals abgelehnt wird. Innerhalb von nur zwei Jahren hat sich die Zahl der Nutzer im dazugehörigen Subreddit, also dem entsprechenden Themenbereich des Forums, verdreifacht, was Rhodes dazu veranlaßte, die Netzseite NoFap.com zu erstellen. Auch auf Youtube gibt es mittlerweile zahlreiche Videos, in denen Anhänger der Bewegung ihre Erfahrungen, Herausforderungen, Rückschläge und Motivationen beschreiben und sich mit Gleichgesinnten austauschen.
Mit dem globalen Erfolg der Bewegung wuchs natürlich auch die Zahl ihrer Kritiker. Schnell entbrannte eine der für das Netz typischen Schwarz-Weiß-Diskussion. Während viele Anhänger des „NoFap“-Ideals sich, ob ihrer neuentdeckten Enthaltsamkeit, sehr altmodisch auf ein moralisch ganz hohes Roß schwangen, warfen etliche derer, die mit Keuschheitsgedanken so gar nichts anfangen können, mit zeitgeistigem Wohlfeil und ordinären Beleidigungen gegenüber den vermeintlich altbackenen „Abstinenzlern“ um sich.
Die Chance auf Diskurs wurde vertan
Das Credo von Friedrich II. aus der als so bieder geltenden Preußenzeit, wonach jeder nach seiner Fasson selig werden solle, scheint im Zeitalter der Toleranz wohl überholt zu sein. Dennoch fand „NoFap“ spätestens ab 2017 sogar Einzug in den Mainstream. Zu der Zeit wurde in den sozialen Netzwerken eine Internet-Challenge unter dem Namen „No Nut November“ (kurz: NNN) populär., bei der die Herausforderung darin bestand, zu versuchen, einen ganzen Monat lang auf das Onanieren zu verzichten
Die entsprechende Gegenreaktion ließ erwartungsgemäß nicht lange auf sich warten. So riefen Spötter die Aktion „Destroy Dick December“ (kurz: DDD) ins Leben, bei der sie die Netzgemeinde dazu ermutigten, im letzten Monat des Jahres, so viel wie möglich zu ejakulieren. Was ein auf vielen Ebenen anregender philosophisch-spiritueller Gedankenaustausch zu der Gewichtung von Eros und Agape unter den Bedingungen der digitalen Postmoderne hätte werden können, verlor sich so endgültig in der Infantilität der gegenseitigen Verachtung.