© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/23 / 02. Juni 2023

Familienleben von Jägern und Sammlern
Erbgutanalysen verraten erste Details über die Sozialbeziehungen der Neandertaler im sibirischen Altai-Gebirge
Dieter Menke

In den Ausläufern des südsibirischen Altai-Gebirges brachten Neandertaler, enge Verwandte des heutigen Menschen, vor 54.000 Jahren Bisons, Steinböcke und Wildpferde zur Strecke. Während der Jagdzeit lebten diese Frühmenschen für einige Wochen in Höhlen, wo sie Steinwerkzeuge fertigten, um damit ihre Jagdbeute zu zerlegen. Überbleibsel ihrer Aufenthalte, wie sie sich in der 2007 entdeckten Tschagyrskaja-Höhle fanden, eröffneten mit erschlossenen Relikten in der Denissowa- und der Okladnikow-Höhle tiefere Einblicke in die altsteinzeitliche Menschheitsgeschichte.

Allerdings verrieten Knochen und Steinklingen den bei der Fundauswertung führenden russischen Archäologen nichts über die soziale Organisation der Neandertaler, nichts über die Verwandtschaftsverhältnisse und den Austausch zwischen den Sippen. Um darüber mehr zu erfahren, nahm die Russische Akademie der Wissenschaften die Hilfe des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Anspruch. Dort ist ein Forscherteam um den 2022 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Svante Pääbo seit 1997 auf der Suche nach den „Urzeitgenen“ des Menschen.

Dabei gelang dem Paläogenetiker 2007 erstmals die Sequenzierung des Neandertaler-Genoms. 2010 dokumentierte der Schwede mittels Erbgutanalyse, daß neben Neandertaler und Homo sapiens eine dritte, von ihnen unabhängige Population der Gattung Homo im Altaigebirge lebte. 2018 folgte dann, anhand der Überreste eines Kindes aus der Denissowa-Höhle, der Nachweis des von Pääbo selbst lange bestrittenen „Genflusses“ zwischen Neandertaler und modernem Menschen, wonach das Erbgut heutiger Europäer und Asiaten zu vier Prozent aus Neandertaler-Genen besteht (Heft „Neandertaler“, Spektrum Geschichte 6/22).

„Soziale Netzwerke“ garantierten entscheidende Überlebensvorteile

Seit 2010 wurden gerade einmal achtzehn weitere Genome jener Menschenlinie aus ihren Hinterlassenschaften in vierzehn verschiedenen Fundstellen zwischen Westeuropa und Sibirien sequenziert. Nun sind mit den Zähnen und Knochen aus der Tschagyrskaja- und der Okladnikow-Höhle mit einem Schlag weitere dreizehn Erbgutdaten jener Neandertaler hinzugekommen, die einst in der Altai-Region herumstreiften. Dabei handelt es sich um sieben männliche und sechs weibliche Personen, von denen acht im Erwachsenen-, fünf im Kindes- und Jugendalter starben.

Die Ergebnisse der zuerst bei Nature (Vol. 6, 516–525 (2022) für die Fachwelt veröffentlichten Leipziger Untersuchungen hat Roland Knauer jetzt einem deutschen Publikum präsentiert (Spektrum der Wissenschaft, 3/23). Als beinahe sensationell hebt der Wissenschaftsjournalist dabei hervor, daß gesicherte Gendaten erstmals Auskunft über die Sozialstruktur von Neandertalern geben, wie sie allein anhand von Artefakten und Fossilien nicht möglich sind. So seien zwei Neandertaler aus der Tschagyrskaja-Höhle „eindeutig Vater und Tochter“, ein Junge und eine erwachsene Frau Verwandte zweiten Grades. Interessant sei auch, daß die Hälfte der Frauen der regelmäßig wohl nur zwanzig Individuen umfassenden Jäger- und Sammler-Gruppen aus anderen Regionen zugewandert waren, während alle Männer bei der Sippe blieben.

Das ist auch der Primatenforschung bekannt: Männliche Schimpansen lösen sich gewöhnlich nicht von in ihrer jeweiligen Gruppe, während sich junge Weibchen oft einer anderen anschließen, sobald sie die Pubertät erreichen. Dieses Verhalten habe einen Effekt, den aber nur Menschen, nicht Menschenaffen nutzten. Durch „Einheirat“ in andere Gemeinschafen entstanden neue familiäre Bindungen, die sich bei entsprechend hoher Bevölkerungsdichte zu großen, Überlebensvorteile garantierenden sozialen Netzwerken ausbildeten. Wie weitreichend sie im Fall der Neandertaler waren, bleibt Stoff für weitere Erbgutanalysen.

 www.nature.com

 www.eva.mpg.de