© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/23 / 02. Juni 2023

Bilanz der Feiern zum ersten Revolutionsjubiläum 1849
Keine gescheiterte Revolution
(ob)

Weil die Revolutionäre von 1848/49 „vor den Thronen Halt machten“, überwiegt in den Deutungskämpfen der Historiker in den letzten 175 Jahren die Ansicht, es habe sich um eine „gescheiterte Revolution“ gehandelt. Für den Berliner Historiker Klaus Seidl drückt sich in dieser Bewertung nichts anderes als eine „oberflächliche Reduktion“ der Geschehnisse aus, die sich durch eine Mikroanalyse der im Frühjahr 1849 veranstalteten zahlreichen Feiern zum einjährigen Revolutionsjubiläum korrigieren lasse (Historische Zeitschrift, 1/2023). In der von den Zeitgenossen formulierten „Erfahrung von 1848/49“ schlugen sich zwar Enttäuschungen nieder, doch überwogen die Hoffnungen auf einen neuen Aufbruch. Insoweit künden die Feiern, die europaweit stattfanden, nicht vom Scheitern, sondern vom Streit der Erben, der auch spätere historiographische Deutungskämpfe präjudizierte, aber in erster Linie der gemeinschaftsbildenden Selbstvergewisserung und der weiteren politischen Mobilisierung diente. In dieser „Zeit der Möglichkeiten“, der frühen Phase der Erinnerungspolitik, hätten die Feiern, so lautet Seidls positive Bilanz von 1848/49, daher zur lange nachwirkenden „Fundamentalpolitisierung“ der deutschen Gesellschaft und zur Ausbildung einer „revolutionären politischen Kultur“ beigetragen. 


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