© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/23 / 02. Juni 2023

Die Türkei und Rußland betreiben fernab von westlichen Vorstellungen ihre lokale Machtpolitik
Arroganz und Barbarei
Erich Weede

Im Osten grenzt Europa an schwierige Nachbarn, an Rußland und die Türkei. Beide Staaten stehen den westlichen Werten noch ferner als ein erster Blick auf deren Regime vermuten läßt. Denn Rußland hält noch Wahlen ab und pflegt damit immerhin eine demokratische Fassade. Bei der Türkei hingegen ist noch nicht mal auszuschließen, daß Präsident Recep Tayyip Erdoğan abgewählt werden könnte und trotzdem bleibt. Jetzt hat er die Wahl gewonnen, was wohl dazu führt, daß die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen künftig problematisch bleiben. Weil Erdoğan einen erfolgversprechenden Bewerber von der Wahl hatte ausschließen lassen und die wichtigste Partei der kurdischen Minderheit behindert hatte, war es um die Fairneß der Wahl schlecht bestellt.  Nach dem Erdbeben im Februar spielte er sogar kurze Zeit mit dem Gedanken einer Verschiebung. 

Das ganze Ausmaß des Abstands beider Länder von westlichen Werten kann schnell erkennen, wer sich den „Human Freedom Index“ des libertären amerikanischen CATO-Instituts ansieht, das 165 Staaten beurteilt. Beide Länder befinden sich auf hinteren Plätzen, Rußland auf Platz 119, die Türkei auf Platz 130. In beiden Ländern sind die Freiheitsdefizite bei der persönlichen Freiheit noch größer als bei der wirtschaftlichen Freiheit. Bei dem Freiheitsindex steht die Schweiz an der Spitze. Auffällig ist, daß auf den besten zehn Plätzen kein Staat mit Großmachtambitionen steht. Diese Ambitionen sind mit Lasten und Freiheitsbeschränkungen für die eigenen Staatsbürger verbunden.

Beide Staaten bilden Brücken nach Asien, unserem an weltwirtschaftlichem Gewicht gewinnenden Nachbarkontinent. In beiden Gesellschaften erinnern sich Teile der Bevölkerung und erst recht die herrschenden Eliten an glorreiche Zeiten, als ihr Land eine Großmacht war. Russische Truppen standen mal westlich der Elbe und türkische vor Wien. Solche Vorgeschichte verführt zu Träumen von neuer Größe. Ob das plausibel ist oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. Einer davon ist die wirtschaftliche Stärke. Da steht Rußland auf Platz 11 in der Welt nach der Wirtschaftsleistung und die Türkei auf Platz 19. Beide stehen hinter Deutschland und auch auch Italien. Unter Berücksichtigung der Kaufkraft verbessern beide, deren Landmasse mehrheitlich in Asien liegt, ihre Rangplätze, Rußland auf Platz 6, die Türkei auf Platz 11 (Deutschland Platz 5, Italien Platz 12). Das Gewicht der türkischen Wirtschaft in der Welt entspricht (ohne Berücksichtigung der Kaufkraftunterschiede) trotz des riesigen Unterschieds in der Bevölkerungszahl nur ungefähr dem schweizerischen. Wie nicht nur Rußland gerade in der Ukraine beweist, sondern die angehende Nuklearmacht Nordkorea noch deutlicher, können auch ökonomische Mittelgewichte oder sogar verarmte Leichtgewichte erhebliche sicherheitspolitische Probleme aufwerfen.

Die türkische Bevölkerung wächst, und das Land hat die Bevölkerungszahl Deutschlands vor wenigen Jahren überholt oder nahezu sechzig Prozent der russischen Bevölkerungszahl, welche aber seit 1990 leicht schrumpft. Weil die Fertilität am Bosporus fast noch zur Bestandserhaltung ohne Migration ausreicht, sind die türkischen Zukunftsaussichten in dieser Beziehung besser als die russischen. Vor dem Ukraine-Krieg lag die russische Wirtschaftsleistung etwa ein Viertel über der türkischen. Beide Volkswirtschaften stecken aber in Schwierigkeiten. In Rußland sank die Wirtschaftsleistung durch den Krieg und die Sanktionen des Westens um zwei bis drei Prozent im letzten Jahr, wobei ein Andauern des Schrumpfungsprozesses plausibler als eine baldige und kräftige Erholung ist. Die türkische Wirtschaft litt 2022 unter einer Inflationsrate über siebzig Prozent, die aktuell bei über vierzieg Prozent liegt, ist aber dennoch um drei bis vier Prozent gewachsen. Trotz des Krieges betrug die Inflation in Rußland 2022 nur dreizehn Prozent. Während Rußland mit einem Budget-Defizit von 1,1 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) besser als die USA, China, der Euro-Raum oder die G7 abschnitt, stand die Türkei mit 3,4 Prozent immer noch etwas besser als der Euro-Raum mit 3,9 Prozent da.

Im kommenden Jahr könnte das Defizit in beiden Ländern in der Nähe von vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen. Die türkische Achillesferse ist allerdings die Leistungsbilanz, also die Summe des Zu- und Abflusses von Geldern, mit einem Defizit von über acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Vorjahr, womit das Land von ausländischer Kapitalzufuhr abhängt. Rußland konnte im ersten Kriegsjahr dank hoher Preise für seine Rohstoffe und gleichzeitig sinkender Ausgaben für Importe sogar einen Überschuß von etwa zehn Prozent erwirtschaften. Das muß nicht so bleiben – wegen der Volatilität der Rohstoffpreise und weil manche westlichen Sanktionen erst verzögert greifen.

 Zusammengefaßt kann man sagen, daß Rußland eine Kriegswirtschaft ist, die sich bisher wacker schlägt, weil sie viel weniger als andere mit dem Ausland verflochten ist. Diese schwache Verflechtung mag kurzfristig und in Kriegszeiten ihre Vorteile haben. Bei langfristiger Betrachtung ist zu bedenken, daß viele Volkswirtschaften sich durch exportorientierte Wachstumspolitik prächtig entwickelt haben: von Nachkriegsdeutschland oder Japan über Südkorea und Taiwan bis hin zur Volksrepublik China. Auf vergleichbare Erfolge ist Rußland nicht vorbereitet. Langfristig ist weder das Ausmaß der Wirksamkeit der Sanktionen absehbar, noch sind es die Folgen der Humankapitalverluste durch Russen, die die Heimat verlassen oder an der Front sterben und häufiger junge IT-Spezialisten als alternde Rentner sein dürften. Der Türkei dagegen ist – jedenfalls vor dem Erdbeben – ein Wachstumswunder bei gleichzeitig hoher Inflation und einem global schwierigen Umfeld gelungen. Daß Hunderttausende Russen während des Ukraine-Krieges Zuflucht in der Türkei gesucht haben, können Beobachter als ein Votum für deutlich bessere Zukunftsaussichten südlich des Schwarzen Meeres ansehen. Im Februar 2023 hat allerdings ein Erdbeben in der Südtürkei und im angrenzenden Nordwesten Syriens die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Türkei massiv verstärkt, was sofort zu hohen Verlusten an der Börse in Istanbul führte. Die Reaktion auf dem Parkett kann als eine spontane Prognose für die türkische Wirtschaftsentwicklung aufgefaßt werden.

Die Beziehungen zwischen Rußland und der Türkei sind ambivalent. Historisch ist eher die Feindschaft als die Freundschaft der Normalzustand. Im Ersten Weltkrieg kämpften beide Seiten gegeneinander. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem die Türkei neutral blieb, schloß sie sich schnell der Nato an. Solange die Türkei kemalistisch war, d.h. Regierungen von der Zustimmung des laizistischen Militärs abhingen und bei Mißfallen auch weggeputscht wurden, bestanden wenig grundsätzliche Zweifel daran, daß die Türkei gegen Moskau an der Seite des Westens stand. Heute ist das anders. Die Regierung Erdoğan fördert den Islam und entfremdet sich vom Westen. Die Türkei gehört zwar zur Nato, hat aber trotz amerikanischer Bedenken ein russisches Luftverteidigungssystem erworben und seitdem Schwierigkeiten beim Einkauf mancher amerikanischer Rüstungsgüter. Die Türkei hat zwar eine Zollunion mit der EU und damit privilegierten Zugang zu europäischen Märkten, will aber die westlichen Sanktionen gegen seinen Konkurrenten im Kaukasus nicht aus Überzeugung mittragen, sondern nur vermeiden, selbst Opfer sekundärer Sanktionen zu werden. Im letzten Jahr sind die türkischen Exporte nach Rußland massiv gestiegen, grob um die Hälfte.

Die türkischen Ambivalenzen gegenüber Rußland zeigen sich am Beispiel der Ukraine. Einerseits scheint die Türkei ein Interesse daran zu haben, daß die Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Rußland wenig ausrichten. Andererseits haben auch türkische Drohnen dazu beigetragen, daß der russische Einmarsch in die Ukraine keine Erfolgsgeschichte wurde. Die türkischen Sympathien konzentrieren sich auf die zehn Prozent Krimtartaren, ein muslimisches Turkvolk, mit dem die Türken sich verbunden fühlen und das bereits zuvor in der Geschichte aus Istanbul regiert wurden. Die Krimtartaren haben den  zweiten Anschluß der Krim an Rußland im Jahr 2014 mit Unbehagen und Mißtrauen begleitet. Sie sind aber nur eine kleine Minderheit in ihrer Heimat. Dieselbe Ambivalenz äußert sich auch im Kaukasus, wo die Türken das verwandte Volk der muslimischen Aserbeidschaner gegen die christlichen Armenier unterstützen, letzere wiederum begreifen Rußland schon in der Zarenzeit und auch heute Rußland als Schutzmacht vor der Türkei. Generell kann man sagen, daß die Ansprüche auf Einflußzonen sich überschneiden. Rußland beansprucht alle ehemaligen Sowjetrepubliken, die Türkei alle davon mit muslimischer Mehrheit und großenteils auch einer verwandten Sprache. In Zentralasien wird das noch durch implizite chinesische Ansprüche kompliziert, die von wirtschaftlicher Durchdringung im Rahmen des Projekts der Wiederbelebung der Seidenstrasse getragen werden.

Auch in Syrien (und Libyen) widersprechen die türkischen den russischen Interessen. Rußland hat den Diktator Baschar als Assad gestützt, ihm den Sieg über islamistische Rebellen ermöglicht. Ankara war nichts wichtiger als die Konsolidierung einer autonomen kurdischen Regierung im Nordosten Syriens zu verhindern, weil ein autonomes Kurdengebiet in Syrien wie das schon bestehende autonome Kurdengebiet im Norden des Irak die Unabhängigkeitsbestrebungen der vielleicht zwanzig Millionen Kurden in der Türkei stärken könnte. Daß die syrischen Kurden von den USA unterstützt und gebraucht wurden, um den Islamischen Staat (im Irak und Syrien) zu besiegen, hat die Türkei nicht daran gehindert, grenznahe Teile des Kurdengebiets zu besetzen und im Nordwesten Syriens die letzten islamistischen Rebellen gegen Assad zu unterstützen.

Rußland und die Türkei sind damit auf lange Sicht Rivalen. Das westliche Pochen auf das Völkerrecht, welches die Existenz von Einflußsphären nicht kennt, führt nur dazu, daß die Ansprüche nicht immer klar formuliert werden. Aber in Moskau und Ankara weiß man dennoch, wer wo dominanten Einfluß ausüben möchte. In beiden Hauptstädten scheint man auch zu glauben, daß es im Moment darum geht, die Übermacht des Westens zurückzudrängen, die durch eine russische Niederlage in der Ukraine weiter ausgebaut würde. Obwohl es uns im Westen schwerfällt das zu glauben, anderswo hält man zuweilen Arroganz und Heuchelei für die west-lichen Werte.






Prof. em. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, Dipl.-Psychologe und Politikwissenschaftler, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehört zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft.