© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/23 / 02. Juni 2023

Jede Seite erhält ihre Würde durch den Widerpart
Musiktheater: Antonín Dvoráks „Armida“ wird nach über drei Jahrzehnten wieder an der Nationaloper Prag gespielt / Ein Premierenbesuch
Sebastian Hennig

Armida“ ist Antonín Dvořáks zehnte und letzte Oper. Entstanden ist ein Wunderwerk der Harmonie und Spannung, wie es nur ein altersweiser Meister hervorzubringen vermag. In seiner Entrückung des Menschlichen in göttliche Sphären und dem damit verbundenen musikalischen Schmelz ähnelt es anderen Spätwerken, wie Wagners „Parsifal“, Mussorgskis „Chowanschtschina“, Tschaikowskis „Jolanthe“ oder auch Richard Strauss „Daphne“.

Nach seinem heimwehdurchtränkten Aufenthalt in den USA wendet Dvořák die bereits in seiner Sinfonie „Aus der neuen Welt“ erprobten Exotismen an. In der musikalischen Durchreise durch das Fremde kommt er zum Eigenen. In der 9. Sinfonie war es die indianische Sphäre der amerikanischen Ureinwohner, in „Armida“ ist es der Islam des Mittelalters und seine Begegnung mit den christlichen Invasoren.

Schon die vorige Oper „Rusalka“ hatte er leitmotivisch angelegt und ins Märchenhafte entrückt. Der Auslandsaufenthalt hat ihn offenbar darin bestärkt, künstlerisch noch weiter von der Erwartung der Zeitgenossen nach nationalromantisch-tschechischem Gesinnungskitsch abzurücken.

Dvořák macht aus dem Stoff nach Torquato Tassos „Das befreite Jerusalem“ ein Zauberstück, das einen ähnlichen Weg in der Nachfolge Wagners einschlägt wie Engelbert Humperdincks Märchenopern. Das Ringen des Damaszener Hofes und der christlichen Soldateska des Bohumir z Boullonu (Martin Bárta) erlebt das Publikum nicht als Clash of Civilizations, sondern als notwendige Ergänzung menschlicher Hochblüte. Hier die elegante Kultur eines islamischen Hofstaats und dort die asketisch-übermenschlichen christlichen Abenteurer. Jede Seite erhält ihre Würde erst durch den Zusammenklang mit dem Widerpart.

Der Kampf zwischen dem Magier Ismen (Svatopluk Sem) und dem Eremiten Petr (Štefan Kocán) ist auch ein höfisches Turnier zwischen Brüdern, die wie Parsifal und Feirefiz von einer Mutter stammen. Eine vierfach gestaffelte Kulisse wird durch das Licht und die Bewegungen der Menschen zum Handlungsraum. Vor einer Hinterbühne hebt sich der Vorhang, um die Vision des christlichen Belagerungsheeres aufscheinen zu lassen. Von dort stürmen die Ritter auf einer in glutrotes Licht getauchten Bühne die Stadt. Als ihr Leitmotiv erklingt in schlichter Kraft ein Choral. Mit den Parierstangen ihrer Schwerter tragen sie zugleich dutzendfach das Kreuz auf die Szene.

Die Syrer sind durch orientalische Klangfarben gekennzeichnet. Der Muezzin (Radek Martinec) ruft in alle vier Himmelrichtungen: „Veliký je Alláh!“ Der grazilen Eleganz des Hofstaates von König Hydraot (František Zahradníček) steht die asketische Kraft der christlichen Ritter gegenüber. Die Musik perlt wie Quellwasser, und die Stimmen der Sänger blitzen in dieser kristallklaren Strömung wie Kieselsteine. Während der Einnahme von Damaskus durchzieht den Orchesterklang ein verhaltenes Trompetengeschmetter.

Den Glauben an großes Musiktheater wiedergewonnen

Der Drache, auf dem Ismen geritten kommt, füllt gigantisch die ganze Bühne aus. Dunkel gekleidete Tänzer tragen die Wirbel und den Kopf dieser Riesenschlange, die zur Musik geschmeidig angeglitten kommt. Die Attribute und Symbole sind den Menschen zugeordnet, deren Gestalt und anmutige Bewegung immer die wichtigste Aussage der Handlung bleibt. Keine angestrengte Pose und keine Dissonanzen zerreißen diesen Zaubertraum. Wie auf alten Buchmalereien oder persischen Miniaturen bewegen sich die Sängerdarsteller in ornamentalen Figuren. Die unterworfenen Kreaturen gleichen Kindern, die mit verbundenen Augen ergeben ihrem Schicksal entgegentanzen. Das Motiv des tanzenden Derwischs mal mit rotem, mal mit schwarzem Fez rahmt das Geschehen.

Zur Ouvertüre versetzen sich die Derwische in taumelnde Trance. Nach der tragischen Tötung der verkleideten Armida durch ihren geliebten Rinald (Aleš Briscein) in der letzten Szene verneigt sich der Derwisch (Patrik Čermák). Mit dieser Niederwerfung, die nicht dem Publikum gilt, wird die Entrückung vollendet. 

Wenige Wochen vor Dvořáks Tod wurde „Armida“ am 25. März 1904 im Prager Nationaltheater uraufgeführt. Das Publikum hatte das ihm bereits von „Rusalka“ Vertraute an der Musik genossen, stand dem Werk an sich skeptisch gegenüber. Erst nach und nach konnte sich „Armida“ durchsetzen. Weitere Inszenierungen gab es dort 1928, sogar 1942 unterm Protektorat, 1946 und zuletzt sehr erfolgreich 1987. Erstmals außerhalb des Landes wurde das Werk 1961 in Bremen mit Montserrat Caballé in der Titelrolle aufgeführt.

Die Prager Neuinszenierung am Ort der Uraufführung ist von einer so hinreißenden Schönheit in ihrer musikalischen und szenischen Umsetzung, daß man den erschütterten Glauben an die Möglichkeiten großen Musiktheaters daran wiedergewinnen kann. Es gibt keinen einzelnen Bestandteil dieser Aufführung, der gegenüber einem anderen als weniger gelungen hervorgehoben werden müßte. Auch die Gefahr einer langweiligen Perfektion ist durch die inspirierte Gegenwart aller Beteiligten abgewendet. Hier wird nicht etwas Eingeübtes wiedergegeben, sondern es entsteht vor unseren Augen und Ohren. Dieser Opernabend bietet ein einheitliches Kunstwerk voller Spannung. 

Die nächsten Vorstellungen von „Armida“ am Nationaltheater Prag finden am  10., 16. und 25. Juni jeweils um 19 Uhr statt.

 www.narodni-divadlo.cz