Es liegt in der Natur des Nomadentums, daß es kaum materielle Spuren hinterläßt. Was Nomaden besitzen, sollte leicht sein, wird deshalb oft aus vergänglichem Material wie Holz, Leder und Tuch gefertigt, muß sich rasch und platzsparend verpacken und mitführen lassen. Hinzu kommt, daß der, der von Ort zu Ort wechselt, weder Zeit noch Interesse hat, sich kulturelle Praktiken anzueignen, die an einen Raum binden und konservierende Maßnahmen erfordern. Schon das erklärt das Fehlen umfassender schriftlicher Überlieferungen von seiten der Nomaden selbst. Berichte über Awaren, Hunnen und Ungarn, vor ihnen die Skythen, später die Araber, Mongolen und Türken, haben üblicherweise die Seßhaften festgehalten. Und für die waren diese Reitervölker in der Regel Barbaren oder „Geißeln Gottes“: nicht nur Invasoren, Räuber und grausame Feinde, sondern auch Repräsentanten einer fremdartigen und irritierenden Lebensform.
Germanen schlossen sich den Hunnen auch freiwillig an
Daß diese Wahrnehmung gute Gründe, aber auch ihre Grenzen hat, wird an der aktuellen Ausstellung des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle an der Saale deutlich. Sie präsentiert rund 420 Exponate aus 30 Sammlungen, die in irgend-
einer Weise mit den Nomaden zu tun haben, die zwischen der Völkerwanderungszeit und dem Hochmittelalter aus dem Osten nach Europa vordrangen. Hunnen (4./5. Jahrhundert), Awaren (6. bis 8. Jahrhundert) und Ungarn (9./10. Jahrhundert) nutzten den „great highway“ der eurasischen Steppe und brachten – von der Kriegführung über die Religion und Symbolik bis zur Ernährung – Gewohnheiten mit, die anders waren als die des antiken Mittelmeerraums oder die der Germanen, Slawen oder Balten jenseits der Grenzen des Imperiums. Eindrucksvoll wird das in Halle an der Bewaffnung dieser gefürchteten Kämpfer illustriert. Zu der gehörte neben dem Pferd selbst vor allem der Kompositbogen, der es erlaubte, in rascher Folge Pfeile mit außerordentlicher Durchschlagskraft zu verschießen, aber auch die awarische Lamellenrüstung der schweren Kavallerie mit ihren mehr als 500 rechteckigen Eisenplatten, deren Aussehen man aufgrund eines Fundes 2017 im ungarischen Derecske rekonstruiert hat.
Die militärischen Erfolge, die etwa die Hunnen errangen, lösten aber nicht nur Angst und Schrecken aus, sondern entfalteten auch eine besondere Anziehungskraft. Germanen schlossen sich ihnen nicht nur gezwungenermaßen, sondern auch freiwillig an, weil sie auf der Seite der Stärkeren stehen wollten und die Aussicht auf Beute lockte. Die kulturelle Scheidelinie galt offenbar nicht als unüberwindlich. So zeigt die Ausstellung Schmuckstücke, die aus hunnischen wie germanischen Elementen bestanden, und Schädel von Repräsentanten der germanischen Oberschicht, die künstlich deformiert wurden, wahrscheinlich um das eigene Aussehen dem der Hunnen anzugleichen.
Ihre Grenze fand solche Synthese an der Kurzlebigkeit der Herrschaftsgebilde, die die Nomaden schufen. Bekannt ist das Beispiel Attilas, dessen gigantisches Reich sich vom Atlantik bis nach Zentralasien erstreckte, aber im Moment seines Todes umstandslos zusammenbrach. Solche Strukturschwäche hatte mit einem anarchischen Grundzug der nomadischen Lebensweise zu tun, der Anerkennung von Führern nur im Fall ihres Erfolgs und der Abneigung gegenüber dauerhaften Institutionen. Faktoren, die hinreichend erklären, warum die Reitervölker unseren Kontinent letztlich kaum tiefer geprägt haben und die Überreste, die man ihnen zuordnet, entweder einen exotischen Eindruck hinterlassen oder – wie fast alles, was mit ihren Religionen und Weltanschauungen zu tun hat – rätselhaft bleiben.
Von dieser Feststellung kann man nur die Ungarn ausnehmen. Sie traten in gewisser Weise das Erbe der Awaren an, die sich eine Zeitlang zwischen Alpen und Karpaten festsetzen konnten, aber schließlich der Expansion des Frankenreiches – der neuen Vormacht des Kontinents – zum Opfer fielen. Die Beziehungen zwischen den Karolingern und ihren Nachfolgern auf der einen, den Ungarn auf der anderen Seite, wechselten phasenweise zwischen Bündnis und Konflikt. Aber die Tatsache, daß die Ungarn sich in der pannonischen Ebene eine dauerhafte Basis für ihre Raubzüge schaffen konnten, die sie bis nach Spanien und Frankreich, Dänemark und Italien, aber vor allem zu Angriffen auf Deutschland führten, erzwang eine militärische Klärung der Lage. Erst mit dem Sieg auf dem Lechfeld 955 hat Otto der Große die „Ungarnnot“ beendet.
Zu den Folgen gehörte, daß unter Stephan I. ein zentrales Königtum nach „westlichem“ Muster an die Stelle des Stämmebunds der Magyaren trat und die Ära der Reiternomaden in Europa endete. Nach drei Generationen war auch jeder Widerstand gegen die Christianisierung überwunden, und Ungarn wurde ein integraler Bestandteil der Gemeinschaft abendländischer Nationen. Ganz vergessen waren Herkunft und Tradition aber nicht. Am ungarischen Hof gehörten während des Mittelalters immer noch steppenfürstliche Machtzeichen wie Säbel, Hörner und Trommeln zu den Attributen des Herrschers.
Die Ausstellung „Reiternomaden in Europa – Hunnen, Awaren, Ungarn“ wird bis zum 25. Juni im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle an der Saale, Richard-Wagner-Straße 9, täglich außer montags von 9 bis 17 Uhr, Sa./So. von 10 bis 18 Uhr, gezeigt. Eintritt: 12 Euro (ermäßigt 7 Euro).
Telefon: 0345 / 5247-375 oder -361
Der sehr informative Begleitband mit 296 Seiten, durchgehend farbig illustriert, kostet 35,90 Euro.