© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/23 / 02. Juni 2023

Kafkas „Schloß“ und das Weltbild der modernen Physik
Unendliche Wahrheitssuche
(dg)

Der Roman „Das Schloß“ ist von Franz Kafka (1883–1924) in den frühen zwanziger Jahren geschrieben und 1926 aus seinem Nachlaß veröffentlicht worden. Seitdem arbeiten sich Generationen von philosophisch und theologisch ambitionierten Literaturwissenschaftlern an der Deutung des Textes ab. Für viele verkörpert die Hauptfigur, der nie zu seinen Auftraggebern im Schloß vordringende Landmesser K., die heillose Verlorenheit des modernen Menschen, andere lesen dessen Scheitern als Parabel auf die Allmacht der Bürokratie. Dagegen macht der Biologe und Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer (Heidelberg) auf einen bisher kaum beachteten Zugang zum Verständnis des rätselhaften Romans aufmerksam: Kafka sei ein Zeitgenosse von Albert Einstein und Werner Heisenberg gewesen. Der Roman weise daher notwendig erstaunliche Parallelen zum von Relativitätstheorie und Quantenmechanik neu geformten Weltbild der Physik auf. Das „Schloß“, auf das Physiker nach 1918 stießen, nannten sie „das Atom“. Und was sie bei seiner Erfassung – mit den Instrumenten nicht der Land-, sondern der Lichtvermessung – verstanden, führte zur erstaunlichen Einsicht, daß Wissenschaft die Geheimnisse der Atome, ihre Stabilität und ihre Energie, nicht offenbaren, sondern nur vertiefen kann. Wie Kafka davon erzählt, daß der neugierige K. kaum etwas über das geheimnisvolle Schloß und seine unsichtbaren Bewohner erfährt, so lehre die moderne Physikgeschichte, daß sich Wissenschaft als etwas erweist, was an keinem Punkt zu vollenden sei. Daher komme sie bei ihrer Wahrheitssuche dem „Geheimnisvollen der Dinge“ lediglich näher (Naturwissenschaftliche Rundschau, 5/2023). 


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